Abgang ist allerwärts
für ihre Phantasien nicht verantwortlich. Für mich gab es keinen Zweifel: Es hätte niemand besser in dieses kleine Dorf mit Kneipe, Kirche und Konsum passen können, als die Menschen, zwischen denen ich nun schon ein paar Jahre lebte.
Und ich wusste, dass ich sie vermissen würde, wenn ich das Land vielleicht schon bald für immer verließe.
Joachim und Dietmar waren am späten Abend zurück in ihre andere Welt gefahren, die ja bald auch die meine werden sollte. Joachim hatte sich noch Carolines Telefonnummer geben lassen und mir das Versprechen abverlangt, dass ich mich sofort bei ihm melden müsse, wenn es etwas Neues in der Sache gäbe. Er hatte mich zum Abschied fest umarmt und ich konnte deutlich spüren, dass ihm das Ganze doch sehr nahe ging.
Dietmar war der Abschied vom Paradies vergangener Zeiten – wie er Hohenfeld nannte – leichter gefallen. Er war noch für denselben Abend von einem befreundeten Galeristen zu einer Mitternachts-Vernissage eingeladen worden und froh, dass er trotz der Reise in die idyllische Vergangenheit noch rechtzeitig zum Empfang zurück in der schrillen Gegenwart sein würde.
Als ich nach ihrer Abfahrt allein in meinem großen leeren Haus saß, trank ich die zweite Flasche des mitgebrachten italienischen Landweins aus und schon nach kurzer Zeit hatte mich das Selbstmitleid fest im Griff.
Am nächsten Morgen brummte mir der Schädel und es kamen mir Zweifel an der Qualität des mediterranen Landweins, mit dem großartig klingenden Namen. Mit vorsichtigen Bewegungen schlich ich ins Bad, duschte minutenlang heiß und kalt und langsam begann mein Kopf durch die Wechselbäder wieder klarer zu werden. Ich hatte das Gefühl, dringend ein paar Liter Mineralwasser trinken zu müssen, also machte ich mich auf den kurzen Weg zum Konsum. Auf dem kleinen Platz vor dem Schloss standen heute nicht die Frauen des Dorfes zusammen, sondern nur Edda mit ihrer schweren Posttasche auf dem Fahrrad und Paul, der sich auf eine Krücke stützte. Edda erzählte wieder einmal mit großen Gesten eine Geschichte, und die musste so interessant sein, dass Paul ihr trotz Krücke und kaputtem Bein aufmerksam zuhörte.
Als ich an den beiden vorbei die brüchige Schlosstreppe zum Laden hinauflief, grüßten sie kurz und Paul machte mir ein Zeichen, das ich nicht deuten konnte. Im Laden warteten vier Frauen, die sich leise unterhielten, also reihte ich mich geduldig ein. Das gab mir genügend Zeit, mir in Erinnerung zu rufen, was mir Gisbert vor einigen Monaten über Paul erzählt hatte. Er gehörte zu den Männern im Dorf, die schon seit langem ohne Frau lebten. Und er trank seit Jahrzehnten. Das Jahrzehnten betonten sie im Dorf besonders, denn jahrelang wäre nichts Außergewöhnliches gewesen. Einige wollten wissen, dass er mit dem Trinken angefangen hatte, als er das erste Mal eine Uniform trug. Das war in den frühen fünfziger Jahren gewesen. Gisbert hatte das für übertrieben gehalten, denn als Säufer hätte er bestimmt nicht diese Frau bekommen, hinter der so mancher im Dorf her gewesen war.
Eine Frau, die zupacken konnte, hatte sich Gisbert erinnert, still mit großen braunen Augen, unter denen die Schatten mit den Jahren immer dunkler wurden, was nicht nur an der Arbeit lag, die sie jeden Morgen, auch an den Wochenenden, um vier Uhr früh aus dem Bett trieb. Sie hatte jahrelang immer im selben Stall für die Kühe der Genossenschaft geschuftet und der Viehgeruch hatte sie bald gar nicht mehr losgelassen. Um diese Zeit war Paul schon bei einer Spezialtruppe der Polizei gewesen. Mehr wussten oder wollten sie im Dorf nicht wissen.
Fast 19 Jahre war Paul mit der stillen Frau verheiratet gewesen, ihre einzige Tochter hatte da schon ihren 20. Geburtstag gefeiert, und kurz darauf war sie die Frau eines jungen Tischlers aus einem Grenzdorf geworden, das nur zehn Kilometer entfernt liegt und dessen letzte Häuser heute schon zu Polen gehören. Wenige Tage nach der Hochzeit der Tochter war die Mutter aus dem Dorf verschwunden und niemand wusste, wohin, nicht einmal Paul, nein, der erst recht nicht, denn von ihm hatte sie weg gewollt. Das stand in einem Brief, den Paul mit Tränen in den Augen Gisbert gezeigt hatte, als er wegen des Alkohols wieder mal bei dem Doktor im Behandlungszimmer saß und reuig über das sprach, was sich in den letzten Tagen und Wochen in der kleinen Wohnung im alten Schloss abgespielt hatte. Paul war schon zwei Tage vor der Hochzeit der Tochter hochgradig betrunken gewesen, und
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