Abgang ist allerwärts
Pommerenke ausrichten lassen, Rudolf solle die Öfen meines Hauses schon vor meiner Ankunft heizen, damit mich warme, wenn auch wenig weihnachtliche Räume empfangen würden. Es hatte zwei Tage vor Heiligabend geschneit, Straße und Häuser lagen unter einer dichten weißen Schneedecke, die alle Geräusche dämpfte und dem ganzen Dorf etwas Friedliches verlieh.
Aus der Stadt hatte ich mehrere Flaschen Rotwein, Apfelsinen und Schokoladenweihnachtsmänner mitgebracht. Den Rotwein für mich, die Weihnachtsmänner und die Orangen für die Kinder des Dorfes. Sigrun hatte mich bei meinem letzten Besuch im Konsum darum gebeten, da sie für jedes Kind des Dorfes nur zwei Apfelsinen und einen Schokoladenweihnachtsmann zum Verkaufen hatte. Jedermann wusste, dass die Hauptstadt der Republik in vielerlei Hinsicht besser versorgt wurde, um den westlichen Besuchern den Wohlstand des realen Sozialismus vorzuführen.
Ich verteilte also die mitgebrachten Extras aus der Sonderzuteilung der Millionenstadt, und bekam dafür von den Bewohnern der 150-Seelen-Gemeinde alles, was zu einem guten Weihnachtsbraten gehört. Während sie aber meine Mitbringsel großzügig bezahlten, war es schwer, sie zu überreden, auch von mir für Flugente und Rehrücken Geld anzunehmen. Dieses eine Mal sollte es mir noch gelingen. Für den ersten Weihnachtstag hatten Agnes und Rudi mich zum Essen eingeladen.
»Keine Widerrede, Elias, es gibt Puter, du weißt schon, den, der immer hinter den Hennen her war, wie der Deibel hinter der Seele, sogar bis auf deinen Hof. Jetzt hat sich´s ausgekollert.«
Ich erinnerte mich an den Riesenvogel, der auf seiner geilen Jagd nach einer willigen Truthenne vor dem Eingang meines Hauses mit ausgebreiteten Flügeln und drohendem Kollern auf mich losgegangen war, weil er wahrscheinlich einen Konkurrenten in mir vermutete. Ich hatte deshalb mein Haus einige Male nur noch durch den Hinterausgang verlassen, bis Rudis Frau mir zeigte, wie man den angriffslustigen Puter resolut mit dem Hofbesen vertrieb. »Dat is wie bei ´nem Hund oder ´nem Ganter, die merken, wenn du Angst hast, bei´n Menschen is das auch nich anders«, hatte Agnes mir gesagt. Nachdem ich einmal, den Hofbesen drohend geschwungen und mein Revier dadurch deutlich verteidigt hatte, ergriff der Truthahn jedes Mal, wenn er mich sah, die Flucht. Nun würde ich am ersten Weihnachtstag gemeinsam mit Rudis Familie den einst so aggressiven Vogel verspeisen. Irgendwie erfüllte mich das mit Genugtuung. Am Vortag des Festes war ich zu einem längeren Spaziergang in Richtung Wald aufgebrochen. Die Landschaft mit dem frisch gefallenen Schnee sah wie auf einer Postkarte aus. Aus den Schornsteinen einiger Häuser stieg dunkler Braunkohlenrauch in den Winterhimmel auf. Am Waldrand standen zwei Rehe, die neugierig zu mir herüber äugten. Es war die reine Idylle. Es hätte nur noch der Spruch gefehlt: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen . Nur meine Gedanken passten so gar nicht zur frohen Botschaft der Weihnachtsgeschichte. Immer wieder ging mir im Kopf herum, was ich vielleicht noch tun könnte, um den quälenden Prozess des Wartens zu verkürzen. Ich dachte mir Möglichkeiten aus, die vielleicht helfen, oder aber auch das Gegenteil bewirken konnten. Es gab keine Garantie. In meinen Texten hatte ich Figuren oft in Situationen gestellt, in denen sie sich so oder so entscheiden mussten, aber wie sie dann handelten, und wie es ihnen dadurch erging, hatte ich bestimmt. Jetzt handelte es sich um keine erfundenen Personen, es ging um mich und mir wurde von Monat zu Monat mehr bewusst, dass ich hier im realen Leben der absoluten Willkür anonymer Gremien ausgeliefert war.
Dabei ging es mir immer noch verhältnismäßig gut, ich saß nicht im Gefängnis, wie andere, die erklärt hatten, das Land verlassen zu wollen. Ich hatte meine Fluchtburg auf dem Lande und immer noch genügend Geld, um zumindest das zum Leben Notwendige einkaufen zu können. War vielleicht auch ich, wie alle, die vom Staat verwöhnt worden waren, solange sie sich gehorsam gezeigt hatten, besonders wehleidig? Es war meine Hilflosigkeit, die mich wütend machte, aber ich hatte mir geschworen, nicht nachzugeben. Ein Widerruf war unvorstellbar. There is a point of no return hatte der Held in einem alten Hollywood Spielfilm verkündet, den ich im Westen Berlins gesehen hatte. In Filmen klang immer alles so großartig und einfach, aber ich fühlte mich beschissen und überhaupt nicht wie ein Held.
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