Abgang ist allerwärts
Einschätzung, war ich doch jedes Mal um eine Erfahrung in Menschenkenntnis reicher. Aber wirklich entspannt war ich immer nur weitab von der Stadt. Dort in diesem kleinen Dorf hatte sich nichts am Verhalten der Bewohner mir gegenüber verändert. Allerdings stand die Probe aufs Exempel ja noch aus. Denn der einzige, dem ich hier bereits von meiner Absicht erzählt hatte, war Gisbert, und ich hatte ihn gebeten, es für sich zu behalten. Wir waren um den kleinen See, der vor Gisberts Haus lag, herumgelaufen, und er, der sonst nie um eine Erwiderung verlegen war, hatte lange geschwiegen.
»Weißt du«, hatte er schließlich zögernd gesagt, »vom Kopf her kann ich deine Entscheidung zu gehen hundertprozentig verstehen, aber da drinnen«, er hatte auf seinen Brustkorb getippt »da schmerzt es doch.« Und dann hatte Gisbert die Stimme versagt, ihm, dem Landarzt, der sonst für jeden den richtigen Satz fand. Wir waren schweigend das letzte Stück der Uferpromenade entlanggelaufen und erst nach ein paar Minuten hatte Gisbert gefragt: »Was wird aus deinem Haus werden, Elias?« Diese Frage hatte ich bisher absichtlich verdrängt, obwohl ich wusste, dass ich vielleicht schon bald eine Entscheidung fällen musste.
XXI.
E s waren schon mehr als drei Monate vergangen, als ich durch einen Anruf ins Ministerium für Kultur bestellt wurde.
Zwei Damen der mittleren Leitungsebene sollten ein – wie sie es nannten – klärendes Gespräch mit mir führen. Die eine dunkelhaarig, die andere blond. Die Dunkelhaarige hatte ich im Theater zur Premiere meines zuletzt aufgeführten Stückes getroffen. Ich glaubte das hellgraue Kostüm, das sie an diesem Abend getragen hatte, wiederzuerkennen. Sie versuchte, einen vertraulichen Ton anzuschlagen, so als wären wir gute Bekannte.
Die Blondgefärbte, offensichtlich ranghöhere Funktionärin, bediente sich einer anderen Taktik. Ihr schwarzer Hosenanzug betonte das Maskuline ihrer Erscheinung. Beide trugen ihre schimmernden Parteiabzeichen an den Revers der Jacken als wären es Schmuckstücke. Jeder konnte so sehen, dass sie Vertreter der größten Macht im Staate waren.
Geführt wurde das Gespräch nach dem autoritären Prinzip von Belohnung und Bestrafung. Da ich die von der grauen Kostümfrau in Aussicht gestellten Belohnungen ablehnte, die mir im Falle eines Widerrufs versprochen wurden, versuchte es die Blondgefärbte zunächst noch mit der moralischen Tour: Ich solle nicht vergessen, was der Staat alles für mich geleistet hätte. Dieser Satz war mir schon aus meiner Schulzeit bekannt, als wiederkehrende Mahnung, aus Dankbarkeit ja nicht aus der Reihe zu tanzen. Als dieser Versuch erfolglos geblieben war, und ich – wie sie sagte – leider keine Einsicht zeige, wurde die Unterhaltung von der Hosenanzug-Funktionärin mit der Aussicht auf mögliche Bestrafung beendet, da ich die Folgen meines Handelns nun selbst zu tragen hätte. Wir verabschiedeten uns höflich aber kühl voneinander, nur die Dunkelhaarige versuchte ein Lächeln. Ich wusste nur eines, dass noch gar nichts entschieden war.
Ich hatte mich entschlossen, bis zum nächsten Tag in der Stadt zu bleiben. Das Unbehagen, das ich inzwischen jedes Mal in der engen Wohnung mit den anonymen Nachbarn empfand, hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. Ein Zustand, der mich zwang, über meine nächsten Schritte nachzudenken.
Noch am Abend hatte das Telefon geklingelt. Eine befreundete Kollegin aus dem Verband rief an, ob sie mich morgen Vormittag besuchen könne, bevor das Kind in den Brunnen gefallen sei, wie sie es nannte. War sie vom Vorstand oder der Partei beauftragt worden oder wollte sie einfach nur kommen, weil wir befreundet waren? Auf jeden Fall würde ich erfahren, woher sie von meinem Entschluss wusste. Ich erklärte mich also einverstanden, und sie schien erleichtert, als sie den Hörer auflegte.
Am nächsten Morgen, kurz nach zehn Uhr, hatte sie an meiner Wohnungstür geläutet.
Als ich ihr öffnete, stellte ich fest, dass sie offensichtlich schon getrunken hatte und ihr Gesicht von einer dicken Schicht Makeup bedeckt war. Sie umarmte mich fest und ließ sich dann mit einem Seufzer auf das kleine gestreifte Sofa fallen, das unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Auf meine Frage, ob ich ihr etwas anbieten könne, nickte sie und sagte dann mit einem etwas unsicheren Lächeln: »Wenn du vielleicht etwas Hochprozentiges hättest, würde ich nicht nein sagen.«
Ich zählte meine bescheidene Auswahl auf und sie
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