Abgang ist allerwärts
existieren, oder zumindest hatten sie kein besonderes Interesse daran. Als das Thema wieder auf die Büttenreden kam, verkündete Schliemann entschieden, dass er es bei den drei tollen Tagen richtig »krachen« lassen würde, dagegen würde das Silvesterfeuerwerk heute Nacht ein lauer Furz werden. Jetzt wollte Kienast wissen, was von seinem Freund, dem Deutschlehrer zu erwarten war. Kanzog hatte nur vielsagend gelächelt und erklärt, dass ihm sein Schuldirektor empfohlen habe, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, weil das schon Lenin verlangt hätte. Diese Bemerkung war mit schallendem Gelächter quittiert worden. Auf dem bunten Bildschirm des Fernsehers schwang eine beeindruckende Girlreihe makellose Beine. Das veranlasste den schon leicht beschwipsten Kanzog dazu, darauf zu bestehen, dass diese Tänzerinnen zwar Profis seien, ihre Prinzengarde der hiesigen Töchter sich aber dahinter nicht zu verstecken brauche, was ihm seine Frau bestätigen musste.
Es war mittlerweile fast Mitternacht geworden und die beiden Frauen gossen erneut Sekt in die sieben Gläser.
Dann zählte der Moderator im Fernsehen laut die letzten Sekunden und wir zählten alle mit. Mit einem Jubelschrei wurden die Gläser gehoben und das neue Jahr begrüßt. Dann wurden gegenseitig gute Wünsche ausgetauscht und Kanzog fügte hinzu, dass er sich freuen würde, mich zum Karneval als Ehrengast begrüßen zu dürfen. Schliemann hatte sich dem mit dröhnender Stimme und etwas unbeholfenem Schulterklopfen angeschlossen. Ich hatte mich beeilt, die Einladung dankend anzunehmen, obwohl ich nicht einmal wusste, ob ich sie überhaupt noch würde wahrnehmen können oder sie mein Erscheinen als Ehrengast an offizieller Stelle als unerwünscht einstuften.
Gisbert hatte mich umarmt und mir mit etwas heiserer Stimme nur alles Gute gewünscht. Hildegard drückte mich mit Tränen in den Augen wortlos an sich, so, als würde ich schon jetzt für immer gehen. Draußen krachte und böllerte es, und ich wünschte mir, dass das funkelnde Feuerwerk wie in alten Zeiten die bösen Geister vertreiben würde.
XXIV.
I rgendwie musste meine Absicht, das Land zu verlassen, doch im Dorf durchgesickert sein. Vielleicht hatte es auch aus der Hauptstadt eine entsprechende Mitteilung an den Bürgermeister gegeben. Ausgesprochen wurde es jedoch von niemandem. Allerdings spürte ich, wenn ich im Konsum anstand, immer öfter die verstohlenen Seitenblicke der wartenden Frauen. In der Kneipe schien es mir, als würden sie mich jedes Mal mit besonderer Herzlichkeit begrüßen, und ich konnte mich manchmal nur durch einen schnellen Rückzug davor retten, schon am Mittag von den spendierten Bieren und Schnäpsen total betrunken zu sein.
Und es gab in ihren Gesprächen, was mich anging, keine Versprechen mehr auf die Zukunft, weder in Bezug auf mein Haus noch auf das Dorf. Sie respektierten auch mein Schweigen über das, was ich vorhatte. Irgendwann würde ich es ihnen schon sagen, und wenn nicht, war es auch gut, denn dann hätte ich sicher meine Gründe. » Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß «. Nach diesem Grundsatz hatten sie schon seit Generationen gelebt, und sie waren – jeder für sich – immer gut damit gefahren, ganz gleich, wer da in der fernen Hauptstadt regierte. So jedenfalls hatte mir Gisbert das Verhalten der Leute aus dem Dorf erklärt. Das half aber nicht gegen mein schlechtes Gewissen, das sich immer häufiger meldete. Konnte ich wirklich weiter so tun, als sei alles beim Alten, obwohl ich deutlich spürte, dass sie wussten, was ich beabsichtigte? Auf der anderen Seite war ich ja niemandem Rechenschaft schuldig. Meinen Freunden in der Stadt hatte ich doch längst von meinem Vorhaben erzählt. Wollte ich mein Haus und das Dorf als einen unberührten Ort bewahren? Oder fürchtete ich, dass sie meinen Schritt nicht verstehen würden? Dass einer, der in ihren Augen alles hatte, immer noch unzufrieden war?
Ein weiterer Monat war vergangen ohne erkennbares Zeichen in meiner Angelegenheit , wie mein Emigrationsersuchen absichtsvoll vernebelnd von dem zuständigen Amt bezeichnet wurde. Ich hatte eine Reiseschreibmaschine, eine Lammfelljacke, ein Fahrrad und meine japanische Stereoanlage verkauft, und damit Geld für die nächsten zwei, drei Monate.
An einem kalten Winterwochenende fuhr ich also wieder in Richtung Hohenfeld. Der zuständigen Behörde hatte ich die Telefonnummer der kleinen Dorfpost mitgeteilt, damit sie mich nötigenfalls erreichen konnte.
Vor
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