ABGEFAHREN: Auf dem Rad durch Deutschland - mit wenig Geld und viel Gepäck (German Edition)
Besuchern auf einem Plakat empfiehlt, „Ihr Künstler SpätburGunther“. Was andere wegwerfen, verwandelt er in Kunst. Aus einer Glühbirne und CDs wird ein Schmetterling, ein Vogelnest steht auf einem Notenständer, Kochtöpfe, Küchensiebe und Stoßstangen verwandeln sich in bizarre Figuren, und eine am Ast hängende bemalte Wurzel sieht aus wie ein fliegender Fisch. Leider ist der Künstler nicht zu sehen, und ich muss weiter.
Immer schön am Rhein entlang fahre ich vorbei an Breisach, Grißheim, Neuenburg und Weil. In Basel, wo ich problemlos den Schweizer Zoll passiere, würde ich am liebsten Pause machen und diese schöne Stadt erkunden. Aber das hebe ich mir für eine spätere Reise auf. Weiter geht’s, ich bin gut in Form, wieder auf deutschem Gebiet über Grenzach-Wyhlen nach Rheinfelden. Alles Orte, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Es wird Zeit, einen Schlafplatz zu suchen. Ich telefoniere verschiedene Hotels und Pensionen ab. Bis zu 70 Euro werden verlangt. Mein Eindruck ist: Je später der Abend und je dringender das Bedürfnis, etwas zu finden, desto teurer das Hotel. Eine Pension kostet beim ersten Anruf 27 bis 30 Euro, Stunden später verlangt dasselbe Haus schon 35 Euro.
Das Wetter ist schön, mein Geldbeutel schmal – nach 104 Kilometern Tagesetappe bahnt sich die nächste Übernachtung im Freien an. In der Nähe von Schwörstadt finde ich mitten im Grünen ein ideales Plätzchen für mich: eine Holzhütte mit Vordach und kleiner Veranda, daneben eine Regentonne voll Wasser. Die Hütte steht auf einem offenen Anwesen mit Grill- und Spielplatz, gegenüber wächst Mais auf dem Feld. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, auch nicht in der Hütte. Ohne lange nachzudenken, rolle ich draußen auf der Veranda Isomatte und Schlafsack aus, esse Brot und Pflaumen aus dem Hause Helde, gucke zu, wie es dunkel wird, verschiebe die Körperpflege auf den nächsten Morgen – und bin sehr zufrieden und froh. Und wieder einmal bestätigt sich, was ich schon Tage zuvor in einer E-Mail an meine Freunde geschrieben hatte: „Ich ahne: Je mehr ich mich von meinem Sicherheits- und Wohlstandsdenken verabschiede, umso leichter komme ich voran und treffe Menschen, die mir wohlgesonnen sind. Da besteht eindeutig ein Zusammenhang.“ Oder ich finde eben einen guten Platz im Freien. Dass die Hütte ein Vordach hat, finde ich im Laufe des späten Abends ganz prima: Es beginnt zu regnen.
Am nächsten Morgen weihe ich mein neues Camping-Waschbecken ein, einen an den Rändern verstärkten Behälter aus festem wasserdichtem Stoff, und ein kleines Mikrofaser-Handtuch. Beides sind Geschenke, die mir der Seniorenbeirat vor Reiseantritt gemacht hat. Der Beirat vertritt in Essen die Interessen älterer Menschen, über seine Aktivitäten berichte ich regelmäßig in der NRZ. Handtuch und Waschbecken, leicht und platzsparend, sind Gold wert auf dieser Reise.
Morgens begleitet mich Regen. Bisher verwöhnt vom ebenen Rheinradweg, wird es zunehmend hügelig. In Rheinheim steige ich für einen historischen Moment vom Rad und fotografiere meinen Kilometerzähler: Am 21. Tag meiner Abenteuertour bin ich 1000 Kilometer im Sattel. Wow! Ein Stück weiter, in Hohentengen nahe der Schweizer Grenze, steige ich aber nach nur 64 Kilometern vom Rad. Was heißt „nur“. Bei der Länge der Tagesetappen setze ich mich keinem Stress aus, mal knacke ich mühelos 100 Kilometer, mal ist schon nach der Hälfte Schluss. Mich selbst unter Leistungsdruck zu setzen, ist wirklich das Letzte, was ich will.
Mir steht eher der Sinn nach einer gemütlichen Pension, wie ich sie bei Silvia Brenzinger finde. Dusche, Kochnische, ein traumhaft bequemes Futonbett, kein Fernseher – alles da, was ich zum Ausruhen brauche. Die Übernachtung in dem großen, komfortabel eingerichteten Zimmer kostet 20 Euro. Silvia Brenzinger schenkt mir ein üppiges Frühstück mit Kaffee. Die nette Frau hat wie ich am 20. Juli Geburtstag. Sie organisiert im örtlichen Verkehrsverein Radtouren und will Mitte Juli 2007 zu einer Treckingtour nach Bolivien starten. Hier bleibe ich gerne auch noch eine weitere Nacht. Ich bin platt, und außerdem führt sich das Wetter im Juni auf wie im April. Heftige Regengüsse und Gewitter werden von strahlendem Sonnenschein abgelöst – oder umgekehrt. Ich habe zwar den langen Riss in meinem Regenmantel gerade mit Klebeband repariert, aber mir ist es trotzdem zu nass. Bei Regenpausen spaziere ich durch den Ort, schmunzle über die
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