ABGEFAHREN: Auf dem Rad durch Deutschland - mit wenig Geld und viel Gepäck (German Edition)
genommenen Kurve mit dem Gesicht auf Schotter und in Kassel mit dem Vorderreifen in einer Straßenbahnschiene und dann auf Asphalt – werden hingegen kurzzeitig schmerzhaft sein.
Auf einer Autofähre geht’s über den See auf die andere Seite nach Meersburg. Es folgen nochmals rund zwölf Kilometer bis Fischbach bei Friedrichshafen. Am 23. Tag meiner Tour und nach 1109 Kilometern komme ich gegen 18 Uhr bei Annegret und Hugo Betzold an. „Der Besuch, den ich nicht kenne“, begrüßt mich Annegret Betzold herzlich. Das Paar bietet mir Quartier und entpuppt sich als wunderbare Gastgeber. Wir verstehen uns gut, fremdeln nicht und müssen auch keine peinlichen Schweigerunden überspielen. Im Gegenteil. Die Betzolds, Eltern eines erwachsenen Sohnes, sind Mitte sechzig und zwei Menschen im Unruhestand. Frau Betzold arbeitet seit über zehn Jahren im Altenheim, inzwischen „nur noch“, wie sie sagt, an zwei Tagen. Ein Mal vormittags, um die Pflegefachkraft und Pflegeschülerin zu entlasten, ein Mal nachmittags im Alzheimer-Café, um Angehörige zu entlasten. Sie weiß, dass die Mitarbeiter in Heimen unter Zeitdruck stehen, „das ist ein Fließbandbetrieb“. Annegret Betzolds Motiv für ihr Engagement: „Um es besser zu machen, und wenn es jede Woche nur für kurze Zeit ist, zum Beispiel, um jemanden in Ruhe beim Essen zu unterstützen.“
Hugo Betzold ist Diplom-Ingenieur und arbeitet für das Unternehmen Astrium (Dornier) in Immenstaad. Dort werden unter anderem Geschwindigkeitsselektoren gebaut, die Neutronen entsprechend ihrer Geschwindigkeit sortieren, um diese als Sonden zu benutzen. Diese wiederum ermöglichen den Blick ins Innenleben von Werkstoffen.
An meinem ersten Abend in Fischbach serviert Annegret Betzold selbstgemachte Kartoffelsuppe mit Würstchen. Hm, ein Gedicht. Besser hätte es meine Großmutter, die berühmt war für ihre leckeren Suppen, nicht hingekriegt. Satt, zufrieden und kaputt falle ich gegen 22 Uhr ins Bett, das in dem Fall eine extra für mich aufgebaute bequeme Campingliege ist.
Am nächsten Morgen frühstücken die Gastgeberin und ich gemütlich zusammen. Ich lerne, dass braune Brötchen mit luftigem Teig „Knauzen“ heißen und eine Brötchenstange mit Salz und Kümmel drauf „Seele“. Eine Seele von Mensch ist indes Annegret Betzold. Die warmherzige Frau packt mir ein üppiges Vesperpaket für meinen Ausflugstag am Bodensee. Ob Tomaten, Süßes oder Servietten, sie denkt an alles.
Derart gut versorgt steige ich aufs endlich mal nicht bepackte Rad, ich fliege geradezu und erkunde auf einer gemütlichen Juckeltour die Gegend. Der „Tatort“ vom Bodensee mit Eva Matthes zählt nicht umsonst zu meinem Lieblingssonntagabendkrimi. Ich bin hin und weg von diesem Flecken Erde, den ich urwüchsig, kraftvoll und idyllisch erlebe. Das blau-grüne Wasser des Sees streichelt die Seele. Ich fahre in Richtung Birnau, schaue mir von außen die Pfahlbauten in Unteruhldingen an, die zeigen, wie die Menschen in der Stein- und Bronzezeit lebten. In Birnau, wo an grünen Hängen Weinreben bis zum Seeufer wachsen, führt kein Weg an der imposanten Rokokokirche vorbei. Lustig ist hier die beschilderte Anweisung, wie Gläubige ihren Beichtwillen bekunden sollen: 1x lang klingeln, 1x kurz.
Da es wieder Zeit für ein Lebenszeichen von mir ist, frage ich in den Orten auf meiner Strecke nach einem Internetcafé. Eine Stunde Surfen kostet drei bis vier Euro. Nicht mit mir, das finde ich unverschämt teuer. Das Café, das ich abends in Friedrichshafen ausfindig mache, hat mit zwei Euro pro Stunde ein annehmbares Angebot. Später gibt’s am Seeufer noch einen wunderbaren Sonnenuntergang gratis dazu.
Am nächsten Morgen, es ist Samstag, der 7. Juli, heißt es Abschiednehmen. Nach einem wieder üppigen Frühstück und mit viel Wegzehrung im Gepäck sage ich: Ade, liebe Betzolds!
Ich radle nur bis Kressbronn, entscheide mich spontan für eine kurze Tagesetappe, weil mich eine außergewöhnliche und preiswerte Übernachtungsmöglichkeit lockt. Und zwar in einem Heuhotel, wo die Nacht mit Frühstück 16 Euro kostet. In der urigen Scheune mit komfortablen Duschen und Toiletten beziehe ich gegen 14.30 Uhr meine Heunische. Mein weiches Lager für die Nacht duftet intensiv und staubt. Egal. Dann gehört der Nachmittag mir. Ich strample nach Lindau und bade im Bodensee, im schönsten Freibad unter der Sonne. Hier liege ich später bei strahlendem Sonnenschein auf der Wiese, ein Zeppelin schwebt am blauen
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