Abgehauen
Biermann ein Kommunist, der die DDR als die einzige der beiden deutschen Alternativen ansieht, aber er hielt sie für verbesserungswürdig. Er hat die DDR scharf kritisiert und tapfer verteidigt. Die Überdosis an Gift in seiner Kritik ist auch unsere Schuld und die Schuld derer, die glaubten, ein paar Gespräche auf höherer Parteiebene würden den Kritiker Biermann zum Schweigen bringen und den Verteidiger Biermann übriglassen. Er ist der begabteste Liedermacher deutscher Sprache, und wenn der Kommunismus dereinst häßliche Eigenschaften abgelegt haben wird, die heute noch als unumgänglich angesehen werden, dann werden die Leute einige Namen der heute Mächtigen vor allem aus Biermann-Liedern kennen.
Von denen, die gegen die Veröffentlichung der Petition in unserer Presse sind, erfährt man, daß es in Polen und selbst im eigenen Land gerade jetzt Pläne zur Vorbereitung konterrevolutionärer Aktionen gibt. Ich habe die Westpresse nicht abonniert, mir ist die Information neu. Hätten die Rausschmeißer sich für den Rausschmiß einen anderen Zeitpunkt auswählen sollen. Die Entfernung Biermanns sieht leider nach Heimtücke aus. Zwölf Stunden nach seinem Westauftritt ist der Beschluß fertig, ein hastiger, die Folgen nicht bedenkender Beschluß. Biermann ist nicht Solschenizyn, die DDR nicht die Sowjetunion. Die gegnerischen Medien stürzen sich drauf, es gibt eine Fernsehsendung und eine wiederholte und verlängerte Fernsehsendung. Nun kennen ihn die Leute auch bei uns. Es zeichnet sich ab, wie groß der Fehler wirklich ist. Zwölf DDR-Schriftsteller verfassen einen Protest. Nach altem Brauch können sie die Öffentlichkeit nicht erreichen. Da dies aber ihr Wille ist, lassen sie sich und ihre Namen durch die feindlichen Medien mißbrauchen. Dieser kalkulierte Mißbrauch ist die einzige Möglichkeit, öffentlich kontrovers mit ihrer Regierung zu sprechen, während der Regierung, wenn sie öffentlich mit den Bürgern sprechen will, alle unsere Medien zur Verfügung stehen. Noch am Abend des 17. November hätte die Regierung die Unterzeichner zu einem Gespräch zusammenrufen können. Man hätte auch am nächsten Morgen im NEUEN DEUTSCHLAND die Petition drucken können und dazu erste Stellungnahmen Andersdenkender. Statt dessen stand ein Artikel von ›Dr. K.‹ im NEUEN DEUTSCHLAND. Es heißt, Dr. Kertzscher sei Mitglied der SA gewesen und Ritterkreuzträger, auch sein akademischer Titel stamme aus der glorreichen Zeit. Alle halten es für einen Fehler, einen solchen Mann als stellvertretenden Chefredakteur des Zentralorgans der SED zu installieren. Aber seine Biographie kannte kaum jemand, erst als man seinen im NS-Jargon verfaßten Ausbürgerungs-Begleitbrief lesen konnte, wurde man aufmerksam auf ihn. Für wie folgenlos die Rausschmeißer den Rausschmiß hielten, erkennt man vor allem an diesem Artikel, dessen Verfasser man nachlässiger nicht hätte auswählen können.
Ich wähle jedesmal die Kandidaten der Nationalen Front und damit die Regierung. Das gibt mir das Recht zu protestieren, wenn ich meine, die Regierung habe meine Interessen nicht oder falsch vertreten, oder wenn ich meine, ich sei durch eine ihrer Maßnahmen gar blamiert worden. Deshalb schrieb ich einen empörten Brief an den Generalsekretär, wobei ich damit rechnete, daß mein Brief ihn nicht erreichen, sondern in einer Vorzimmerschublade verschwinden würde.
Mitten beim Schreiben kommen mich zwei Freunde besuchen und legen mir die Petition vor. Ich unterzeichne sie sofort, weil sie höflicher und klüger ist als mein Brief. Man hat mich korrekt über Entstehung und Weg der Petition unterrichtet.
Solange unsere Medien dazu da sind, Meinungen zu verordnen, statt sie zu bilden, bleibt dieses scheußliche Problem. Ich erspare mir, Verlauf und Ergebnisse weiterer Treffen vorzutragen, nur soviel: Es haben Gespräche stattgefunden zwischen einigen Unterzeichnern und den Genossen Lamberz, Adameck und Sensberg: zwischen Jurek Becker und Kurt Hager; zwischen Stephan Hermlin und Erich Honecker. Vergeblich wurden Wege gesucht, Biermann ohne Gesichtsverlust, auf welcher Seite auch immer, zurückzuholen.
Inzwischen war die gewaltige Welle von Rausschmißbefürwortern in den Zeitungen angeschoben worden mit der Nebenwirkung, daß nun auch die letzten Träumer in den thüringischen Tälern und im Dresdener Informationsloch zum ersten Mal den Namen Biermann hörten. Jetzt werden die Unterzeichner unter Druck gesetzt: Ihr Undankbaren, habt den
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