Abgehauen
Wir stehen noch immer im Schützengraben gegen die Imperialisten. Auch ich wünschte mir mehr demokratische Freiheiten bei uns, aber erst wenn wir den Graben verlassen können, erst wenn der Sieg auf unserer Seite ist, können wir ein Maß an Liberalisierung schaffen, das das Leben schöner und angenehmer macht.«
»Meinen Sie, daß es auf der Erde je einen Augenblick geben wird, wo alle aus den Schützengräben klettern? Der Imperialismus war noch lange nicht niedergekämpft, da sind wir nur haarscharf vor einem Krieg zwischen den beiden größten kommunistischen Ländern der Erde verschont worden.«
»Was am Ussuri los war, weiß ich nicht«, sagt Gerstner. »Ich weiß nur, daß die Chinesen totale Idioten sind und daß sie Verrat üben. Dem Pinochet Kredite zu geben oder Zaire zu unterstützen, das ist Verrat. Man muß mit ihnen fertig werden. Ich bin ein sehr diszipliniertes Mitglied der Partei, sie ist mir eine wichtige und hohe Sache, und ich bin bereit, jede Equilibristik mitzumachen, weil das diese Partei ist. Das sind Dinge, die uns unterscheiden. Dennoch bin ich gekommen, Ihnen zu sagen, daß Sie uns so wichtig sind. Nicht dem Lamberz und seinen Leuten, sondern dem Volk.« »Lamberz ist die Partei. Das Politbüro ist die Partei, und die Partei hat immer recht.« Gerstner: »Das weiß ich doch!«
»Dann wissen Sie auch, daß Lamberz und seine Leute die Hebel in Händen haben. Für das Volk kann ein Schauspieler nur wichtig sein, solange er spielt und arbeitet.« Gerstner: »Haben Sie nicht auch die DDR verteidigt?« Ich: »Aber ja, mir selbst ging es doch gut. Sie war früher leichter zu verteidigen, da gab es noch das Beispiel Biermann, das man anführen konnte, wenn das Wort Polizeistaat fiel.«
Gerstner: »Wir sagen Diktatur des Proletariats. Ich liebe dieses Wort auch nicht, ich glaube, daß Marx und Lenin es anders gemeint haben, nämlich als vorübergehendes Stadium. Aber ich würde nicht Polizeistaat sagen, weil ja die Politik, die von dieser Partei gemacht wird, mit unserem Wollen übereinstimmt.« Ich: »Mit meinem Wollen nicht. Ich habe trotzdem nie Polizeistaat gesagt. Man kann für weniger ins Gefängnis kommen.«
Gerstner: »Doch, ich nenne die DDR manchmal einen Polizeistaat.«
Ich: »Wem gegenüber?«
Gerstner: »Wenn ich im Kreise von Genossen bin, mit denen man ein offenes Wort reden kann, sage ich durchaus, daß das keine Diktatur des Proletariats ist, sondern ein Polizeistaat.«
Offenbar ist ihm die Taktik, wie er mit mir zu reden habe, freigestellt worden, oder er nimmt sich selbst die Freiheit, jeden Unsinn zu sagen.
»Sehen Sie das nicht?« sage ich. »Der Sozialismus droht zu entarten. Hat er noch das Glück der Menschen im Auge. Weiß er noch, was alles zu diesem Glück gehört?« Gerstner: »Ich glaube, ja. Ich glaube, daß wir die Reisemöglichkeiten erleichtern werden, daß wir Schritt für Schritt weiterkommen. Ich freue mich über die italienische und französische Partei. Was bei uns manche Genossen schreckt, der Eurokommunismus, das sehe ich als eine hoffnungsvolle Entwicklung an. Das kommt dem, was ich will, was meine Freunde wollen, sehr nahe. Nur über den Weg, wie man solche Möglichkeiten verwirklichen kann, sind wir uns offenbar nicht einig. Da werfen Sie zu früh das Handtuch.« Er erzählt, daß er als Sechzehnjähriger einen Schüler-Redewettbewerb gewonnen habe, woraufhin er für ein Jahr nach Amerika eingeladen wurde, auf eine Eliteschule. Daß er 1935 als junger Jung-Diplomat in Frankreich war, erzählt er nicht. »Die Erfahrung hat gezeigt«, sagt er, »daß diejenigen, die einen solchen Wechsel von der einen Welt in die andere vornehmen, später zu Feinden des Sozialismus werden. Auch Sie sind dieser Gefahr ausgesetzt.« »Umgekehrt«, sage ich, »beim Anblick der imperialistischen Fratze müßte mir der Sozialismus im nachhinein als eine Wohltat erscheinen, ich werde ihn vermissen und meinen Schritt bereuen. Mit wem haben Sie solche Erfahrungen? Biermann und Brasch haben doch drüben Wohlverhalten gezeigt.«
Gerstner: »Wohlverhalten bei Biermann? Sie sehen doch, er kommt nicht mehr an, verliert an Boden, er wird ein erbitterter Feind der DDR werden.«
Ich: »Das könnte die DDR noch immer vermeiden, wenn sie den Mut hätte, ihm die Rückkehr zu ermöglichen. Biermann wird nie verbitterter gegen die DDR sein als er es während der letzten zwölf Jahre hier im Land war.« Gerstner: »Nur ein Beispiel: Kennen Sie den Namen Wolfgang Leonhardt? Er hat mich
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