Abgehauen
allen anderen Aufgaben nicht zurechtkommt.
»Sie haben den Faschismus nur als Kind erlebt«, sagt er, »Sie können nur wenig ahnen von dem Befreiungsgefühl der Menschen, als er endlich zerschlagen war.« Ich sei dankbar und glücklich, daß es diese Todesängste nicht mehr gebe, die Konzentrationslager und den Terror, aber ich hätte in letzter Zeit einige unserer subtileren Methoden erlebt, die mich durchaus an die Geschichten aus dem Dritten Reich erinnerten.
Aber das sei doch die alte Geschichte von der Pistole in der Hand des Verbrechers und in der des Polizisten. »Das ist doch wirklich der Unterschied«, sagt er. »Alles, was getan wird, stimmt überein mit meinen persönlichen Vorstellungen und Zielsetzungen. Seit Mai ‘45 fühle ich mich frei. Mein Gott, der Ulbricht war ein Malheur und den Honecker finde ich schlimm in seinem Personenkult, in seiner Überheblichkeit, in seiner Ahnungslosigkeit darüber, daß kein Mensch Wert auf ihn legt. Aber was er tut, entspricht doch voll und ganz meiner Meinung: Alle Sozialmaßnahmen, die Stärkung der Wirtschaft, die Rationalisierung – das ist mein Metier –, alles das entspricht hundertprozentig dem, was man sich nur wünschen kann. Da verkneif ich mir jegliches Tamtam und lege die Hände an die Hosennaht. Die Demokratisierung wird kommen, ich bin für einen demokratischen Sozialismus.« Aber jetzt sei nicht die Zeit, der Schützengraben sei der Ort, an dem wir noch eine Weile wachsam verharren müßten. Mein Beruf hat mir Routine gegeben, reizvolle Textpassagen leicht zu behalten. Gerstner prägt sich gut ein, ich höre ihm gespannt zu.
»Ich bin Jahrgang 1912, habe mit vollem Bewußtsein die Weimarer Republik erlebt, dann die Nazizeit, dann die DDR. Und weil das hier eine Stunde der Offenheit ist, sage ich Ihnen: In der Weimarer Republik gab es ein Lebensgefühl, eine Freizügigkeit, es waren die ›Golden Twenties‹ – das ›Kabarett der Komiker‹ war da, Reinhardt war da, die Theater und Konzerte … Es war wirklich eine Goldene Zeit, eine geistige, eine ganz spezifische Zeit. Dann habe ich das Fürchterlichste erlebt, die Nazis. Und jetzt erlebe ich unsere Zeit, wo alles geht, wie ich es will, bloß eben nicht die demokratische Freiheit. Alles andere ist gut: der Internationalismus, der RGW, die Integration; so muß es sein. Soll ich aber diese drei Lebensabschnitte charakterisieren – Weimar, Hitler, die DDR –, so muß ich Ihnen sagen, die beiden letzten Abschnitte ähneln sich in der Lebensführung.«
Ich mache ihm Komplimente, auch als Journalist verfolge er die immer seltener werdende Taktik, hier und da Mißstände einzuräumen, um dadurch seinen Optimismus verdaulicher zu machen. Davon solle sich sein Kollege Schnitzler eine Scheibe abschneiden. Der habe, sagt Gerstner, eine andere Aufgabe, nämlich den Gegner zu entlarven. Er sagt: »Lesen Sie morgen in der BERLINER ZEITUNG auf Seite 3 meinen Artikel über die Konfektion, dann werden Sie meine Methode und meine Absichten verstehen, das wird hohe Wellen schlagen.« Der Artikel muß gut gewesen sein, ich habe ihn nirgendwo gefunden. Wer war schon scharf auf »hohe Wellen« über die Konfektion in diesen Tagen.
Wir plaudern noch eine Stunde, kauen ein Dutzend Personen durch, noch einmal liest er die Namen auf der Liste, findet die Leute alle sympathisch, bleibt an Christa Wolf hängen und sagt: »Eine Frau mit so großen politischen Erfahrungen, und doch hat sie unterschrieben. Meine ganze Hochachtung.«
Was ist dieser Gerstner für ein Wahnsinniger? Was für verschiedene Sachen passen in seinen Charakterkopf …
Als er geht, fehlt nicht viel an 11 Uhr. Ich schreibe die Nacht durch aus Angst, von diesem Abend etwas zu vergessen. Um 8 Uhr früh gehe ich zu Bett.
28. April 1977, Donnerstag
Punkt elf kommt Eberhard Esche in seinem VW-Bus mit holländischer Nummer. Ich habe wenig geschlafen. Er hat sich kaum verändert. Immer noch lässig in Jeans, Figur und Haarschnitt erinnern noch immer an den Bruder von Kennedy, nur seine Wangen flattern schon ein bißchen beim Sprechen, und die Oberlippe zeigt kleine Falten. Er ist der dritte von denen, die ich lange nicht gesehen habe. Er geht durch die Wohnung, betrachtet dies und das und witzelt. Wir trinken Kaffee, er erzählt viel von sich und seiner Frau, die es in der DDR schon lange nicht mehr aushält, aber sie bleibt hier, weil er hier bleibt. Das ist Liebe. Er liest den Antrag und sagt: »Mich hat das mit dem Biermann nicht so
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