Abgehauen
Nationalpreis gekriegt, jetzt widerruft, denkt an eure Zukunft, denkt an eure Arbeit! Es gibt Leute, die täglich in die Mangel genommen werden, es herrschen Angst und Heuchelei, üble Verleumdungen kommen aus der Abteilung Gerüchteerfindung. Minister Hoffmann behauptet im Schriftstellerverband vor 200 Dichtern des Landes, ich hätte Leute unter Druck gesetzt. Undenkbar, ihn wegen Verleumdung vor Gericht zu fordern. Leider drängt sich mir das Bild von Menschen, auf, die so lange durchgebogen werden, bis man in den Wirbeln den Knacks hören kann. Niemand kümmert sich darum, wie die sich anschließend fühlen, wie sie noch mit ihren Freunden verkehren sollen – Hauptsache, da ist ein Widerruf. Wie lange soll das Kesseltreiben weitergehen, nachdem in der Presse halbwegs Ruhe eingezogen ist? Wichtige Leute in unserem Land sind schon vor zwölf Jahren eingeschnappt und waren deshalb nicht in der Lage, Biermann für die DDR nutzbar zu machen, ihn zu integrieren. Es gab nie eine öffentliche Auseinandersetzung mit ihm. Hunderte von teuren graduierten Marxisten, Gesellschaftswissenschaftlern, Literaturwissenschaftlern sahen sich nicht bereit oder in der Lage, öffentlich mit Biermann zu streiten. Nun haben sie ihn einfach rausgeschmissen und die Kulturschaffenden dieses Landes in Verlegenheit gebracht.
Von Goethe stammen die Worte:
Der Dichter wird als Bürger und Mensch sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist und das er ergreift und bildet, wo er es findet. Er ist darin dem Adler gleich, der mit freiem Blick über Länder schwebt und dem es gleichviel ist, ob der Hase, auf den er hinabschießt, in Preußen oder in Sachsen läuft.
Und:
Wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel.
Wir sind an einem Punkt angelangt, wo Genosse Bauer aus dem ZK vor den Schriftstellern der DDR die Telefongespräche zwischen Jurek Becker und anderen Personen vorträgt.
Da will ich bei den Gemaßregelten stehen und warten, bis nicht nur wir, sondern auch die anderen so viel dazugelernt haben, daß wir trotz unterschiedlicher Meinungen unserer Arbeit nachgehen und gemeinsam auf ein Ziel zugehen können.
Gebt Ruhe. Hört auf, Leute länger zu belästigen und zu demütigen. Schaut uns nicht länger an, wie Schlangen Kaninchen anschauen, es ruiniert unsere Gesundheit. Stachelt keinen falschen Kampfgeist an, hört auf, Biermann-Wut zu produzieren. Unter den Wütenden könnte ein neues Talent sein.«
Nach einer langen Pause, in der Gerstner sein Gesicht hinter den Händen verbirgt, sagt er: »Da haben Sie was auszubaden, Herr Krug. Sie sagten vorhin, daß wir alle eines Tages einen Nutzen davon haben könnten. Das mag sein, nur Ihnen nützt das alles gar nichts. Ich habe andere Methoden, ich will an der sozialistischen Sache mitarbeiten und sie fördern, aber mit anderen Mitteln.« »Sie selbst halten also den Sozialismus für veränderungsbedürftig«, sage ich. »Aber das kann gefährlich sein. Und doch wollen Sie es? Wie sympathisch. Und so einen Mann habe ich für einen Stasimann gehalten.« Gerstner: »Um Gottes willen!«
Ich: »Wußten Sie nicht, daß man das auf jeder Diplomatenfete rings um Sie herum von Ihnen sagt?« Gerstner: »Um Gottes willen, nein.« Pause. »Wo leben wir.« Da bleibe ihm nur eine Konsequenz, nämlich diese Kontakte rigoros einzuschränken. Für einen Moment bedaure ich, geplaudert zu haben. Aber der alte Haudegen Gerstner muß doch wissen, daß wir auch hier im Schützengraben stehen. In Ciceros »Menschlichen Pflichten« habe ich mir mal eine Stelle angestrichen: »Es dünkt mich sehr anständig, wenn die Häuser der Großen den Fremden offenstehen; und es gereicht selbst dem Staate zur Ehre, wenn Ausländer in der Hauptstadt desselben wohl aufgenommen werden.« Noch 2000 Jahre später haben DDR-Bürger Angst, Diplomaten in ihre Häuser einzuladen. Viele hatten großen Ärger mit ihrem Staat, jeder weiß, daß nur Berufspolitiker, Militärs und Stasileute nichts zu befürchten haben, da ziehen die Leute ihre Schlüsse, denn Gerstner ist weder Politiker noch Offizier. Nach einer Weile kommen wir wieder auf den Faschismus. Erhaltung des Friedens und Antifaschismus sind die Lieblingsthemen des guten Genossen, vor allem dann, wenn die Partei mit
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