Abgehauen
angesehen, gegen das Licht gehalten, die wollten es gar nicht glauben –, da kam mir die Idee, daß die DDR auch was wert ist, verstehst du? Und da gehöre ich dazu. Ich ging immer wieder gern hierher zurück, im Gegensatz zu meiner Frau. Ich merke in diesem Land, daß ich lebe, daß ich ernst genommen werde, wenn ich weit genug gehe. Man braucht einen Glauben und eine Hoffnung. Unser Land ist nicht die ganze Welt, aber es gehört dazu, und es ist ein Teil von Deutschland, und zwar der bessere, weil er mehr Hoffnungen bietet. Mit dem kümmerlichen und schlappschwänzigen Sozialismus muß man Geduld haben. Im Januar stand ich vor dem Problem, daß meine Frau sagte: Ich kann nicht mehr. Um sie überhaupt am Leben zu erhalten, habe ich gesagt, gut, wenn es nicht anders geht, hauen wir ab. Und eine Woche lang habe ich mich ganz ernsthaft, wie man so sagt, mit einem Gedanken getragen. Und dann habe ich bilanziert. Es ging nicht um die Wohnung und die Möbel oder das kleine Wochenendhäuschen, sondern um meine Mutter und meine Tochter. Die Tochter war kein Problem, weil sie in der Familie meiner ersten Frau lebt. Aber die Mutter war ein Problem. Nein, die war auch kein Problem, weil man sie mit nach dem Westen nehmen könnte. Da wußte ich, daß es immer noch nicht die Wahrheit war, was ich dachte. So kam ich endlich auf das Theater. Ich habe herausgefunden, ich hänge gar nicht so sehr an dem Land als vielmehr an dem Theater. Das war der Punkt. Meine Frau hätte drüben Chancen, und ich könnte Tomaten züchten oder so was. Aber das Theater, dieses Gemäuer, wenn ich es verliere, ist es für immer verloren. Und ich habe gemerkt, wenn ich nur fest etwas will, macht meine Frau schon mit, solange sie mich liebt. Ich weiß, daß unsere Liebe drüben kaputtginge. Ich kann mich dort nicht richtig verhalten. Hier kann ich die Schnauze aufreißen, drüben muß ich zusehen, ob ich an das Geld rankomme oder nicht. Hier kann passieren, was will, das Geld reicht immer zum Leben. Drüben bin ich weg vom Fenster, wenn ich mich mausig mache …«
Dem Schauspieler Esche ist das Herz voll, ihm läuft der Mund über und über. Er kann meine Geduld im Zuhören nicht auf die Probe stellen. Meiner Rechtfertigungen müde, lausche ich ruhig den seinigen. Er spricht leise, und manchmal verschwindet seine Stimme im Lärm der Flugzeuge, die in Tegel starten. Überhaupt werden die Gespräche in meiner Wohnung immer raunender, seit so viel über Minisender und Wanzen geredet wird. Manche sagen: komm, laß uns in den Garten gehen. Noch gehe ich zum Sprechen nicht in den Garten. Wenn die Menschen jetzt soweit sind, daß sie einander an jedem Ort belauschen können, kann es nur eine Konsequenz geben: an jedem Ort alles sagen. Sollen die in den Garten gehen, die Dynamit herstellen, um Wandlitz in die Luft zu sprengen. Mir gefällt es nicht schlecht, wenn drüben der Innenminister ins Wackeln kommt wegen einer Wanze. Unter meinen Bekannten hat es in letzter Zeit mehrere Lauschangriffe gegeben. Einer Freundin haben sie ein Loch aus der Nebenwohnung durch die Wand gebohrt und ein Mikrofon durchgeschoben. So was fliegt schon mal auf. Das Wanzenproblem ist bei uns ein Devisenproblem. Für mich dürften sich solche Kosten nicht lohnen, alle wissen, daß ich keine Heimlichkeiten habe. Mir droht eine andere Gefahr, und sie würde in Zukunft größer werden. Ab 5. Mai 1977 tritt neben anderen das »Gesetz über die öffentliche Herabwürdigung« in Kraft:
§220
Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.
Ich schrecke auf, als ich Esche sagen höre: »Das ist doch ein besetztes Land. Ich verstehe nicht, wie du diese historische Tatsache übersehen kannst. Die DDR hat den Krieg nicht verloren, aber die Russen verlieren seit über 30 Jahren den Krieg gegen die DDR. Das ist vielleicht unsere Art von Vergeltung gegen die Besatzungsmacht. Und da liegen Spannungen. Wer soll denn hier die Idee gehabt haben, den Biermann rauszuschmeißen? Paul Verner und Werner Lamberz, der eine ewiger Zweiter, grimmig und böse, der andere thronfolgeverdächtig, die beiden sind die Tour geritten, und das ist die Moskauer Tour. Es ging nicht um Biermann, der ist nicht so wichtig, in dieser kleinen Kirche
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