Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
lutschen, reden und lachen, und ich denke, dies ist vielleicht das Leben, von dem in Realityshows immer so viel Aufhebens gemacht wird.
Die Tasche mit den Papieren in der rechten Hand, das Jackett über den linken Arm gelegt, ein paar Hemdknöpfe geöffnet, die Krawatte gelockert, die Ärmel aufgekrempelt und überall Schweißflecken, hatte ich beschlossen, wenigstens heute Abend auf das Taxi zu verzichten, ein paar Schritte zu gehen und Druck abzubauen.
Ich laufe über Handzettel für absolut einmalige Angebote , vorbei an erleuchteten Schaufenstern und geschlossenen Restaurants. Es war ein langer Tag, und doch begleitet mich immer noch die Leichtigkeit, die ich empfinde, seit Emily den Sitzungssaal betreten hat. Dinge wie put&call , covenant und Klausel seventeen im Kopf, frage ich mich, was für einen Eindruck ich auf sie gemacht habe. Hat sie das Loch in meinem Anzug bemerkt? War ich ihr sympathisch? Hat sie einen Freund? Was wird sie morgen anhaben? Ist es ein kluger Schachzug, sie mit dem Satz London ist London, aber Mantua ist auch nicht übel zu begrüßen?
Ich komme an heruntergelassenen Rollläden vorbei, an den orangefarbenen Blinklichtern der Müllwagen, an Chinesen, die mir Spielzeughubschrauber verkaufen wollen. Nun stehe ich vor meinem Haus. Holztür, drei Stockwerke, dann meine liebe Wand, der ich von meinem Tag erzählen werde, und mein liebes Bett, wo ich ihn hinter mir lassen werde.
Ich stecke die Hand in die linke Tasche.
Halte inne.
Krame herum.
Halte wieder inne.
Noch einmal.
Jetzt geht mein Atem hörbar schneller.
Ich stecke die Hand in die rechte Tasche und hole mein Handy heraus.
»Hallo? Ein Taxi zur Piazza Sant’Agostino 18. Danke.«
Ich denke an den Moment, da ich, bevor ich zur Sitzung hinuntergegangen bin, meinen Schlüssel aus der Tasche genommen und auf den Schreibtisch gelegt habe, um Platz für das Blackberry zu schaffen. Dort liegt er jetzt. Dorthin muss ich zurück.
Somewhere over the rainbow skies are blue…
Ich singe leise vor mich hin und balle die Hände zu Fäusten. Die Fingernägel bohren sich in die Handflächen. Von all dem unberührt, küsst sich ein Paar unter den Kameras der Verkehrskontrolle. Leidenschaftlich.
24
Die Kanzlei Boraletti & Partner versteckt sich im fünften Stock eines Gebäudes mit Fassade im viktorianischen Stil und genießt eine großartige Aussicht auf den Justizpalast. Ich durchquere den Vorraum bis zur Glastür, aber der Bewegungssensor zögert, als hätte er Schwierigkeiten, mir eine körperliche Existenz zuzuweisen.
»Der muss anders eingestellt werden«, erklärt Boraletti und nimmt mir die düsteren Schatten der Existenzangst.
Ich schaue mich um und sehe die Dinge, die man in jeder anständigen Kanzlei findet: eleganter Empfangstresen aus Mahagoni; wuchernde Pflanzen, die das Ganze einrahmen; Reproduktionen moderner Kunstwerke neben frisch restauriertem Stuck; glänzendes Eichenparkett; eine Empfangsdame mit konfektioniertem Lächeln und glatter Haut; ein ewiges Gewusel von Praktikanten auf dem Höhepunkt der Geschäftigkeit. Das Ambiente soll Vertrauenswürdigkeit, Seriosität und Professionalität ausstrahlen und den Mandanten in einer Welt begrüßen, welcher er seine Belange nicht nur ruhigen Gewissens, sondern auch mit dem gebührenden Stolz anvertrauen kann.
Wir – die Arbeitskräfte – wissen, dass sich das Bild gründlich ändert, wenn man den repräsentativen Bereich verlässt und sich in unsere Räume zurückzieht, welche jene – die Mandanten – nie zu Gesicht bekommen. Dort hinten gibt es keine Zierpflanzen und kein Mahagoni, sondern Anbauschreibtische mit ein paar Kakteen drauf, die irgendjemand mal ausgesucht hat, weil sie pflegeleicht sind. Statt Bilder von echten Malern findet man dort farbige Korktafeln, an denen sich die vergilbten Fotos von Kindern anderer Menschen wellen (die berühmten Neffen und Nichten), oder alternativ Karikaturen und geistreiche Sprüche. (Nicola hat mal ein DIN-A3-Blatt mit einem Zitat aus Full Metal Jacket aufgehängt: Hier sind alle gleich – keiner zählt einen Dreck. Giuseppe hat lauthals gelacht, dann aber gesagt: »Nimm das sofort ab«, um zu demonstrieren, dass es letztlich doch jemanden gibt, der das Sagen hat). Wir wissen, dass sich jenseits der Eingangsidylle Akten, Dokumente, Mappen und Kisten auftürmen und oft jahrelang darauf warten, sortiert zu werden (»Das ist Zeug von Pedrini, der schon drei Jahre weg ist. Ich rühre das nicht an!« – »Aber es liegt auf
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