Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
sehen.«
Unter normalen Umständen gab ihre Arbeit kaum Anlass für Gelächter. Aber unter normalen Umständen war ihr Team auch nicht mit so einem Trottel von Praktikanten geschlagen.
»Na schön, dann nutzen wir mal schnell die Ruhe, bevor der Tolpatsch wiederkommt«, sagte Herzfeld, als sich die Heiterkeit gelegt hatte.
Er richtete den Kopf der Toten so aus, dass er in der geöffneten Mundhöhle den kleinen Spalt sehen konnte, der direkt über der Abbruchkante des fehlenden Oberkiefers lag. Hier setzte er den Meißel an, um die Öffnung zu vergrößern.
Danach konnte er mit einer Pinzette den kleinen Fremdkörper, der sich schon auf den Röntgenbildern gezeigt hatte, aus der freigelegten Schädelbasis entfernen.
»Kein Projektil. Sieht aus wie eine Metallkapsel«, murmelte Yao, die ihm über die Schulter sah.
Nein. Und auch kein Splitter.
Herzfeld untersuchte den ovalen, grüngefärbten Zylinder zunächst mit der Lupe und entdeckte die Rille, die die linsengroße Kapsel wie ein Äquator in der Mitte teilte.
Sieht so aus, als könnte man das Ding hier öffnen,
dachte er. Tatsächlich gelang es Herzfeld, den Zylinder mit Hilfe einer Zange und einer Pinzette in zwei Teile zu schrauben. In der Kapsel steckte ein winziger Zettel, nicht größer als ein halber Nagel des kleinen Fingers.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Yao hinter ihm, während Herzfeld das Fundstück vorsichtig glättete und unter das Mikroskop legte.
»Kümmern Sie sich weiter um die Bauchorgane, ich komm schon alleine klar«, sagte er und stellte die Okulare scharf. Auf den ersten Blick wirkten die Zeichen auf dem Zellstoff wie zufällige Verunreinigungen. Doch dann drehte er das Papier um hundertachtzig Grad und erkannte einige Zahlen, die darauf notiert waren. Sie wirkten wie eine Mobilfunknummer, und Herzfeld wollte bereits seine Kollegen über den merkwürdigen Fund informieren, da entdeckte er die sechs kleinen Buchstaben unter den Ziffern. Sie sprangen durch das Mikroskop direkt in seine Amygdala, in den Bereich des Gehirns, der für Angstreaktionen zuständig ist. Der Puls zog an, Schweiß trat ihm auf die Stirn, und der Mund wurde trocken. Gleichzeitig hatte Herzfeld nur noch einen einzigen Gedanken:
Bitte lass es einen Zufall sein.
Denn die Buchstaben auf dem Zettel, den er eben aus dem Kopf einer verstümmelten Leiche extrahiert hatte, setzten sich zu einem Vornamen zusammen:
Hannah.
Der Vorname seiner siebzehnjährigen Tochter.
7. Kapitel
H erzfeld hätte nicht zu sagen vermocht, wann seine Finger das letzte Mal so sehr gezittert hatten. Drei Mal schon hatte er sich vertippt, einmal wäre ihm sein Handy beinahe aus der Hand gefallen.
Was hat das zu bedeuten? Wer hat diesen Zettel in dem Kopf der Frauenleiche plaziert?
Er hatte sich auf der Männertoilette am Ende des Gangs in einer Kabine eingeschlossen und musste sich beeilen. Seine Kollegen erwarteten ihn in wenigen Minuten zurück. Sie wunderten sich ohnehin schon, weshalb er entgegen seinen Gewohnheiten den Saal noch während der Obduktion verlassen hatte.
Endlich.
Die Verbindung baute sich auf. Der Handyempfang war im gesamten Gebäude dank zahlreicher Verstärker selbst in den Kellern und Aufzügen tadellos.
»Hallo?«
Mist. Verdammt.
Es hatte viermal geläutet, dann war die Mailbox mit einem Knacksen in der Leitung angesprungen. Jetzt hörte Herzfeld keine herkömmliche Ansage, sondern eine Begrüßung, die noch verstörender war als der Umstand, der ihn überhaupt erst dazu gebracht hatte, diese unbekannte Nummer zu wählen.
Er war sich sicher gewesen, dass der Anschluss ihn zu seiner Tochter führen würde. Die Leiche war so grausam entstellt, dass der Täter es geradezu darauf angelegt haben musste, sie auf Herzfelds Tisch zu plazieren. Bei derart auffälligen Verbrechen wurde der Leiter der Spezialeinheit »Extremdelikte« in Berlin automatisch hinzugezogen.
Trotz dieses Wissens traf Herzfeld die Bestätigung seiner schrecklichen Vermutung wie ein Schock.
»Hallo, Papa?«
Die Stimme seiner siebzehnjährigen Tochter war kristallklar, als stünde sie direkt neben ihm. Und dennoch klang Hannah so, als befände sie sich in einer anderen, dunklen Welt. Unendlich weit entfernt.
»Bitte hilf mir!«
Um Gottes willen. Was geht hier vor? Weshalb besprichst du eine Mailbox mit einer Ansage, die nur für mich bestimmt ist?
Hannah klang heiser, müde und außer Atem, als wäre sie gerade eine Treppe hinaufgestürmt, und doch war die Stimme anders als sonst,
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