Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
dem die Eingangstür gesichert war, und zeigte Ingolf, was Martinek mit einem Edding auf den Holzgriff der kurzen Axt geschrieben hatte:
Du wirst sie brauchen, Paul.
»Scheint so, als werde ich erwartet.«
Herzfeld trat an die Tür, nahm das Schloss prüfend in die Hand, erkannte die Schwachstelle und zerteilte mit einem schnellen, geschickten Hieb ein verrostetes Glied in der Kette, wobei er sich auf die Lippe beißen musste, um nicht laut aufzuschreien, als ihm der Schmerz durch die geprellten Finger schoss.
Die Tür hatte keinen Knauf mehr, ließ sich aber problemlos aufziehen.
»Sie bleiben hier!« Herzfelds Ton duldete keine Widerrede, doch Ingolf blieb davon gänzlich unbeeindruckt. Er legte eine Hand hinters Ohr und fragte: »Hören Sie das?«
Verdammt, er hat recht. Was zum Teufel ist das?
Irgendetwas brauste und rauschte im Inneren des Hauses, und es wurde lauter, als sie eintraten. Doch das war nicht das einzig Befremdliche.
Schon auf der Schwelle bemerkte Herzfeld eine unerwartete und völlig unnatürliche Wärme, die nichts mit einer überhitzten Wohnung im Winter gemein hatte. Sie war wesentlich feuchter, fast wie in einem Gewächshaus.
»Das ist ja kaum auszuhalten«, keuchte Ingolf hinter ihm. Als Herzfeld sich umdrehte, sah er, wie sein Begleiter den obersten Hemdknopf öffnete. Auch Herzfeld begann zu schwitzen. Er tastete nach einem Lichtschalter neben der leeren Garderobe, doch der Deckenlampe fehlten sämtliche Glühbirnen.
»Sven?«, rief er, ahnend, dass er keine Antwort erhalten würde. Selbst wenn sich sein ehemaliger Kollege hier irgendwo versteckt hielt, würde er sie bei diesem Lärm kaum hören können.
Es sei denn, er steht direkt hinter mir.
Von einer irrationalen Furcht erfüllt, drehte sich Herzfeld herum, doch es war nur Ingolf, der jetzt in ihn hineinrannte.
»Vorsicht, bitte. Sie sind bewaffnet«, sagte er mit Blick auf die Axt, die Herzfeld immer noch fest umklammert hielt.
Herzfeld nickte nur und sah sich um.
Das Anwesen hatte den Grundriss eines kleinen Stadtschlosses. Direkt hinter einem geräumigen Windfang schloss sich ein doppelstöckiges Atrium an, von dem eine geschwungene Flügeltreppe in die oberen Gemächer führte. Rechts und links der beiden Treppenaufgänge lagen breite Durchgänge. Im Prospekt eines Maklers klang das sicher hochtrabend; in der Realität wirkte es trist und morbide, was auch daran lag, dass es nirgendwo Möbel oder Bilder gab, nur leere Wände mit ergrauten, fleckigen Tapeten.
»Ich sag doch, hier wohnt niemand mehr«, beharrte Ingolf erneut.
»Und wer ist dann für diesen Krach verantwortlich?« Herzfeld deutete nach links. »Sie warten hier, haben Sie verstanden?«
Ingolf nickte und setzte sich seine Brille wieder auf, deren Gläser sofort beschlugen.
Das Rauschen schien aus dem Durchgang links von Herzfeld zu kommen, also bog Herzfeld hier ab. Der schmale, düstere Gang erinnerte an einen Hotelflur, von dem in regelmäßigen Abständen kleinere Zimmer abgingen. Bis auf eine Tür waren alle verschlossen. Je weiter Herzfeld voranschritt, desto lauter wurde es.
Und wärmer!
Herzfeld erreichte die offenstehende Zimmertür, die zu einer kleinen Kammer gehörte, und entdeckte darin die Lärmquelle: Das Heizgebläse auf dem Boden verfügte über ein Edelstahlrohr mit dem Durchmesser eines Handballs und musste schon seit Stunden,
wenn nicht seit Tagen,
in Gebrauch sein. Die Düse glühte rot, und es roch nach verbranntem Kunststoff. Der Lüfter wäre stark genug gewesen, eine kleine Traglufthalle mit heißer Luft zu versorgen. Für den schmalen Durchgangsflur zum Speisezimmer war er völlig überdimensioniert.
Herzfeld griff nach dem Kabel in der Wand und riss es aus der Steckdose. Es wurde schlagartig kälter, aber es rauschte immer noch, wenn auch jetzt in einiger Entfernung.
»Es muss noch weitere Heizlüfter geben«, ließ ihn die Stimme in seinem Rücken zusammenfahren. Wütend vor Schreck, drehte er sich herum: »Ich hab doch gesagt, Sie sollen vorne auf mich warten.«
»Hab ich ja, und dabei hab ich das hier entdeckt.«
Ingolf hielt ihm mit schuldbewusster Miene einen schmalen Aktenordner entgegen.
Herzfeld legte die Axt auf den Boden, um beide Hände frei zu haben, dann schlug er den Pappdeckel auf. Hastig überflog er das ihm wohlvertraute Formular eines Obduktionsberichts, während ihm Ingolf mit dem Display seines Handys in dem Halbdunkel des Ganges etwas Licht spendete.
Zerstörtes, frisch unterblutetes Hymen,
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