Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Toten ins Gesicht gesehen, doch das, was er zu erblicken fürchtete, überstieg seine Kräfte bei weitem.
Herzfeld fühlte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinunterrann, schloss die Augen und musste einen Ausfallschritt machen, weil er das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
Bislang hatte er Ingolf die vollständige Sicht auf den Tisch versperrt, jetzt konnte auch der Praktikant erkennen, was den Professor so sehr schockiert hatte. Es waren weder der Gestank noch die Maden, die ihn davon abhielten, das Leichentuch wegzureißen, sondern das Asthmaspray, das direkt vor Herzfelds Augen auf dem Tisch lag.
28. Kapitel
Helgoland.
V orhin bei der Töven, wo hast du eigentlich die ganze Zeit gesteckt?«, wollte Linda wissen, als sie mit dem Fahrstuhl nach unten in die Pathologie fuhren.
Noch beim Sprechen fiel ihr auf, dass sie und Ender irgendwann ohne größeres Nachdenken zum Du übergegangen sein mussten.
Wahnsinn verbindet. Auch ein guter T-Shirt-Spruch.
»Ich hatte einige Mühe, die Luke zum Dachboden zu öffnen, das Schloss klemmte, und selbst mein Dietrich wollte nicht funktionieren. Gerade hatte ich das Ding geknackt, da hörte ich dich unten rufen.«
Die geräumige Aufzugskabine kam zitternd zum Stehen, und die Türen öffneten sich.
»Glaubst du, Herzfelds Tochter ist noch am Leben?« Linda hielt die unförmige Teppichrolle an einem Ende fest, damit sie auf dem Weg aus dem Fahrstuhl nicht von dem Krankenhausbett rollte. Ihre Hände fühlten sich merkwürdig taub an, seit sie noch im Haus der Richterin versucht hatte, sich das Blut abzuschrubben, in das sie sich gestützt hatte. Sie hatten beschlossen, für den Transport den Perserteppich zu benutzen, der vor der Couch gelegen hatte. Am Anfang hatte Linda die Drecksarbeit alleine machen müssen, da Ender sich geweigert hatte, mit anzupacken, solange noch Blut zu sehen war. Dafür hatte er die Leiche, nachdem sie in den Teppich gewickelt war, auf eigene Faust zum Auto getragen, um sie den Anweisungen Herzfelds entsprechend hierher in die Klinik zu bringen.
»Oder meinst du, sie haben Hannah längst ermordet?«
»Keine Ahnung«, antwortete Ender. Sie schoben das Rollbett in die Pathologie und wurden von dem Geruch begrüßt, von dem Linda wusste, dass sie sich in tausend Jahren nicht an ihn gewöhnen würde.
»Ich weiß nur, dass uns bald die Tische knapp werden, wenn das hier so weitergeht.«
Ender rollte das Bett zu dem zweiten Sektionstisch, drei Meter von dem entfernt, auf dem Eriks aufgeschnittener Körper weiter ausdünstete. Immerhin herrschten dank des Heizungsausfalls kaum mehr als neunzehn Grad hier unten, und das war wesentlich besser als die Kälte außerhalb der Klinikmauern. Durch den Sturm hatte man draußen das Gefühl, durch einen Eisschrank zu gehen, was den angenehmen Nebeneffekt hatte, dass niemand unterwegs gewesen war, der sie dabei hätte beobachten können, wie sie die Leiche durch den Hintereingang in die Klinik getragen hatten.
»Auf drei«, sagte Ender und gab Linda ein Zeichen, sich das Fußende der Teppichrolle zu greifen, dann betteten sie die Richterin um. Als sie mit dem anstrengenden Unterfangen fertig waren, bemerkte Linda, dass dem Hausmeister die Hände zitterten. Sie berührte ihn sanft am Oberarm.
»Hast du Angst?«
Er sah sie aus erschöpften Augen an. »Du etwa nicht?«
»Doch, klar. Ich meine, wer freut sich schon über zwei Leichen an einem Tag?«
»Ein Bestattungsunternehmer«, versuchte Ender zu witzeln. Dabei war nicht zu übersehen, wie schlecht es ihm ging. Linda griff nach seiner Hand, die er ihr aber entzog.
»Lass uns mit der Arbeit beginnen«, sagte er und räusperte sich verlegen. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Linda versuchte es ein zweites Mal, diesmal bekam sie ihn zu fassen. Seine Hand war schweißnass.
»Nein«, sagte sie.
»Wie nein?«
»Nein, wir werden hier gar nichts mehr machen, bevor ich nicht genau weiß, was mit dir los ist.«
Ender lachte nervös und rieb sich die freie Hand am Overall ab. »Was soll schon mit mir los sein?«
Er versuchte, gelassen zu wirken, aber seine Körpersprache verriet ihn. Vom Hals an abwärts war jeder Muskel angespannt, als wollte er für eine Meisterschaft im Bodybuilding posen.
»Pass auf«, sagte Linda und ließ ihn wieder los, um sich ein Seziermesser zu greifen. »Ich mach diesen Irrsinn nur mit, weil ich große Angst habe, dass hier wirklich ein Serienmörder auf der Insel herumläuft, und ich nicht will, dass bei nächster Gelegenheit
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