Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
des Bootshauses. Ansonsten glich der quadratische Raum, in dem früher einmal Ruderboote, Ersatzteile, Reinigungsmittel oder Planen aufbewahrt worden waren, einer bizarren Kultstätte.
Das Erste, was man beim Eintreten sah, war der Schrein. Er stand am Kopfende des Schuppens vor einem Metallrollo, vermutlich der Ausgang zum See hinaus, durch den man die Boote herein- und hinausschieben konnte.
Das Bild, das Martineks Tochter Lily bei dem Versuch zeigte, vierzehn Geburtstagskerzen auf einmal ausblasen zu wollen, stand im Zentrum dieses kleinen, von einer Weihnachtsbaumkette umrahmten Altars. Sie war die einzige Lichtquelle im Raum, wenn man von der Leuchtdiode eines kleinen Ölradiators absah. Im Gegensatz zu den gewaltigen Lüftern im Haus war diese Heizung auf kleinste Stufe gestellt und spendete nur dann ein wenig Wärme, wenn man direkt vor ihr stand.
Herzfeld trat einen Schritt näher und musterte die vielen persönlichen Gegenstände, die Martinek zum Andenken an seine Tochter um das Foto drapiert hatte. Auf der hölzernen Ablage des Schreins lagen ein Schülerausweis, ein Zahnspangenbehälter, eine Postkarte, Stifte, Süßigkeiten, Murmeln, ein Stoffesel, der an Lilys Kommunionskerze lehnte. Sie war erst zu einem Drittel abgebrannt. Herzfeld meinte vor sich zu sehen, wie Martinek sich hier niedergekniet und die Kerze angezündet hatte, um einsam und allein den Tod seiner Tochter zu beweinen. An diesem Ort musste ihn die Wut über das Urteil vergiftet haben.
Hier hat er den Plan gefasst, es mir mit gleicher Münze heimzuzahlen. Mir zu zeigen, wie es sich anfühlt, wenn man die eigene Tochter verliert.
»Irgendwie krank«, murmelte Ingolf hinter ihm. Dabei meinte der Praktikant nicht den Schrein, sondern die Fotos. Sie waren überall. Auf den Planken, an den Regalwänden, sogar an der Decke des Bootshauses hatte Martinek die Aufnahmen mit einem Presslufttacker befestigt. Die meisten zeigten Sadler, heimlich fotografiert und aus großem Abstand: An dem Tag, an dem er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Wie er in einem U-Bahn-Eingang verschwand. Beim Aufschließen seiner Haustür. Auf einigen sah man den Kinderschänder in seiner Freizeit, beim Besuch einer Videothek, schwitzend auf einem Laufband, von dem Gebäude aufgenommen, das dem Fitnessstudio gegenüberliegen musste. Auf einem Bild verabschiedete Sadler sich mit einer engen Umarmung von einem Teenager vor einem Spielplatz. Viele Fotos waren vergrößert; vor allem die, auf denen der Killer lachte.
Ein Allerweltslachen,
dachte Herzfeld und nahm eine grobkörnige Aufnahme in die Hand.
Nichts, wovor du deine Kinder warnen könntest.
Er sah das Datum am Bildrand. Der Schnappschuss war erst vor wenigen Wochen gemacht worden, worauf der Schnee auf dem Bürgersteig hinwies.
Martinek hatte ganze Arbeit geleistet. Gut möglich, dass er den Mörder seiner Tochter vierundzwanzig Stunden am Stück überwacht hatte, vielleicht sogar mehrere Tage.
Kein Wunder, dass du durchgedreht bist, Sven.
Zumal Martinek dreieinhalb Jahre hatte warten müssen, um diese Bilder schießen zu können.
»Wieso eigentlich sind Sie das Objekt seiner Rache?«, fragte Ingolf mit dem ihm eigenen geschwollenen Sprachduktus. Er hielt einen Zeitungsartikel hoch, den er auf dem Boden gefunden hatte. Er musste durch den Wind beim Betreten des Bootshauses zu Boden gewirbelt worden sein. In den Regalen stapelten sich Kisten mit ausgeschnittenen Berichten, die sich dem ersten Anschein nach allesamt mit dem Vergewaltiger und Kindesmörder beschäftigten.
Herzfeld sah in Ingolfs Richtung und wurde von einer Lichtreflexion in dem Regal hinter dem Praktikanten abgelenkt. Langsam ging er an ihm vorbei, schob einen Schuhkarton mit weiteren Fotografien zur Seite und kniff die Augen zusammen. Die Schrift auf dem Aufkleber war im Halbschatten nur sehr undeutlich zu lesen, daher trug er seinen Fund zum Schrein zurück.
»Ich meine, müsste Martinek sich nicht eher um diesen Sadler kümmern als um Sie?«, fragte Ingolf weiter.
Herzfeld nickte, dann sagte er: »Ich bin mir sicher, dieses Stadium der Rache hat mein Kollege längst hinter sich gelassen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil ich den Beweis gerade in Händen halte.«
Er streckte Ingolf das Einwegglas entgegen, das er eben dem Regal entnommen hatte.
»Jan Erik Sadler«, las Ingolf die Beschriftung vor. Herzfeld erschauerte, als er den zweiten Vornamen des Killers hörte. »Ist es das, was ich denke?«, fragte Ingolf und deutete mit
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