Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Martinek im Andenken an seine Tochter im Bootshaus errichtet hatte.
Im Andenken und im Wahn.
»Haben Sie das hier schon gesehen?«, fragte der Praktikant.
Eigentlich hatte Paul es noch einmal mit einem weiteren Anruf in der Klinik versuchen wollen, doch jetzt trat er, das Handy in der Hand, neugierig näher. »Das ist das Bild von Lily.«
»Das meine ich nicht.«
Ingolf hob das schmale Tischtuch an, auf dem Martinek die Schätze ausgebreitet hatte, die ihn an seine Tochter erinnern sollten (
Todessouvenirs,
schoss es Herzfeld durch den Kopf), dabei kam die Kommunionskerze ins Wanken.
»Vorsicht«, mahnte er und wollte die Kerze festhalten, als er die Tastatur sah, die Ingolf freigelegt hatte.
Der morbide Altar war um einen Laptop herumgebaut, für das flüchtige Auge unsichtbar mit Tüchern und Servietten bedeckt. Lilys DIN -A 4 -Foto klebte nicht auf einer hölzernen Rückwand, wie Herzfeld bislang vermutet hatte, sondern auf einem flachen Computermonitor.
Plötzlich hörte er ein leises Summen, dann begann sich das Abbild des lachenden Mädchens gespenstisch zu verfärben.
»Der Laptop hat noch Saft«, stellte Ingolf fest. Herzfeld legte sein Handy neben den Computer, hauchte sich etwas Atem in die vor Kälte starren Finger, dann löste er das Foto vom Monitor, dessen Hintergrundbeleuchtung die Gesichter der beiden in ein kaltes, blaues Licht tauchte.
Das Eingabefeld für ein Passwort tauchte auf. Herzfeld tippte, ohne nachzudenken, den Vornamen von Martineks Tochter ein, und Sekunden später baute sich die typische Benutzeroberfläche eines Heimcomputers auf. Die Desktopansicht wirkte sehr aufgeräumt, nahezu leer. Neben den üblichen Icons für ein Textverarbeitungs- und Mailprogramm, Internetbrowsern und einer Steuerverwaltungssoftware gab es keine auffälligen Dateien oder Shortcuts, die es sich auf den ersten Blick zu öffnen gelohnt hätte, zumal Herzfeld keine Ahnung hatte, wonach er auf der Festplatte hätte suchen sollen.
»Sehen Sie mal im Verlauf nach«, riet Ingolf, und Herzfeld folgte dem klugen Ratschlag, indem er unter »Zuletzt verwendet« im Startmenü die Namen der Dateien überflog, die Martinek in letzter Zeit geöffnet hatte.
Er war nicht verwundert, dass er nur einen einzigen Eintrag fand; der Endung des Dateinamens nach war es ein Videofile:
•••seethetruth.mp
4
•••
»Sieh die Wahrheit?«, übersetzte Ingolf, während Herzfeld sich wieder so fühlte wie vor wenigen Minuten, als er kurz davorgestanden hatte, das Leichentuch von einem Klumpen Fleisch zu ziehen.
Und leider war er sich sehr sicher, dass es diesmal kein Schweinekopf wäre, den sie zu sehen bekommen würden. Martinek hatte sich das Video in den letzten Wochen mehrfach angesehen oder überarbeitet.
Die Zeit rennt.
Entgegen der warnenden Stimme in seinem Kopf, es besser nicht zu tun, klickte Herzfeld die Datei an und beobachtete die Veränderungen auf dem Bildschirm.
Es dauerte geraume Zeit, bis sich das graue Fenster, das nicht größer war als das eines YouTube-Videos, mit Inhalt füllte.
Schon auf den ersten Blick entlarvte es sich als eine amateurhafte Collage: überbelichtet, unscharf und verwackelt, was den gezeigten Bildern aber nicht ihre Intensität nahm, obwohl man zunächst nur erahnen konnte, was genau die Kamera im Fokus hatte. Erst als die Aufzeichnung etwas schärfer wurde, löste sich das Bilderrätsel.
»Füße?«, fragte Ingolf und bat, das Video größer zu ziehen, aber anscheinend sah das Abspielprogramm keine Vollbildfunktion vor. Dafür war es möglich, den Bildschirm von der Tastatur zu entkoppeln, wie Herzfeld bemerkte, als Ingolf zwei Hebel am Seitengehäuse des Laptops umlegte und ihm den losgelösten Monitor reichte. Derweil zeigte die Aufnahme einen Frauenkörper, das Gesicht hatte der Kameramann ausgespart.
Glatte, jugendliche Haut; der Größe und Statur nach zu urteilen, ein Mädchen im Alter zwischen dreizehn und siebzehn Jahren.
Um sich von dem Grauen auf dem Video abzulenken, war Herzfeld in seinen professionellen Obduktionsmodus verfallen.
Sie liegt in einem geöffneten Leichensack auf einem Tisch, der dem im Esszimmer des Herrenhauses ähnelt. Die Hüfte ist schmal, rasierte oder gewachste Bikinizone, keine besonderen äußeren Kennzeichen, mit Ausnahme einer Tätowierung am linken Knöchel, verdammt …
Die Tätowierung riss Herzfeld aus dem Zustand des neutralen Beobachters und machte ihn wieder zum angsterfüllten Vater.
Ist das Hannah?
Er kannte diese
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