Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
ihre Mutter denken müssen, die sie früher getröstet hatte, wenn sie Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte.
»Schhhh, da ist niemand unter deinem Bett, Liebling.«
»Nein, nicht unter dem Bett, aber …«
… aber in der Pathologie, daran konnte es keinen Zweifel geben: Es waren Schritte gewesen, die sie hörte, keine Lüftungsgeräusche. Es waren Lichtreflexionen einer Taschenlampe gewesen, die durch den Saal zuckten, keine Sinnestäuschungen. Sie steckte in einem Kühlfach und nicht in einer wachtraumähnlichen Vision.
Irgendjemand, eine reale Person, war ans Telefon gegangen. Irgendwer hatte abgenommen und …
Gehustet!
Sie hatte es gehört, eine Mischung aus einem Keuchen und einem Lacher, als wollte der Mann sich über den Anrufer lustig machen. Jetzt, eine Weile, nachdem er wortlos das Gespräch unterbrochen hatte, hörte Linda erneut das Geräusch schlurfender Schritte. Hatten sie sich vorhin von den Kühlfächern fortbewegt, kamen sie jetzt langsam näher.
Großer Gott, Hilfe,
schrie Linda, wenn auch nur in ihren Gedanken, und dann machte sie den Fehler, den schweißnassen Knauf ihres Messers an ihrer Hose abzuwischen, um es im Falle des Falles sicherer im Griff halten zu können.
Unglücklicherweise glitt ihr das Messer aus den gefühlstauben Fingern und verschwand mit einem Klirren zwischen den Streben der Liegeschiene.
Ihr blieb nicht lange genug Zeit, um sich Vorwürfe zu machen und darüber nachzudenken, ob der Unbekannte etwas gehört haben mochte, denn nur wenige Augenblicke später wurde die Tür zu ihrem Versteck ruckartig aufgerissen.
41. Kapitel
D u?«
Wieder fragte sich Linda, ob sie halluzinierte, seit sie aus dem Kühlfach geklettert war. Ihre Verblüffung war so groß, dass sie für einen Moment den Leichengeruch vergaß.
»Ender?«
Der Strahl seiner Taschenlampe leuchtete ihr nicht mehr direkt ins Gesicht, sondern war zur Decke gerichtet, wodurch die gesamte Pathologie in ein gespenstisches Schummerlicht getaucht wurde.
Jetzt, da Linda nur noch einen Schritt von ihm entfernt stand, musste sie sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut aufzuschreien. Enders Anblick war grauenerregend.
Wie die Leichen auf den Edelstahltischen wirkte auch der Hausmeister wie eine Wachsfigur aus dem Horrorkabinett. Sein lichtes Haar stand wirr zu allen Seiten ab, Gesicht und Hände waren ebenso blutverschmiert wie sein Overall, und der Knauf des Seziermessers im Hals hob und senkte sich mit jedem Atemzug.
»Wie … wieso … spürst du denn nicht …?«, setzte sie immer wieder an, unfähig, auch nur eine einzige Frage zu vollenden.
Wie ist das möglich?
Ender zuckte mit den Achseln und sah sie eher verwundert als erschrocken an. Er öffnete den Mund und wollte ganz eindeutig etwas sagen, aber wegen seiner Verletzung kamen ihm nur schwerverständliche Laute über die Lippen.
Zwei Dinge waren offensichtlich: Linda hatte sich geirrt, der Hausmeister war nicht gestorben, sondern in tiefe Bewusstlosigkeit gefallen. Und er stand unter Schock, seitdem er wieder aufgewacht war.
Sie musste an eine Reportage über den Irak denken, in der über die Opfer von Selbstmordattentätern berichtet worden war. Ein Gemüsehändler hatte nach der Explosion nach seinem kleinen Sohn gesucht und erst gemerkt, dass ihm der linke Arm bis zur Schulter abgerissen war, als er das tote Kind unter den Trümmern der Marktstände hervorziehen wollte.
Auch Ender musste ähnlich traumatisiert sein, anders war es nicht zu erklären, weshalb er seelenruhig vor ihr stand und sich nicht im Geringsten über seinen Zustand zu wundern schien.
Er zog die Augenbrauen hoch und krächzte etwas, was sich wie »Was ’n los?« anhörte.
Linda schüttelte ungläubig den Kopf.
Das gibt’s doch nicht. Er spürt das Messer nicht.
Offenbar produzierte sein Körper gerade eine Wagenladung Endorphine, die ihm den Schmerz und auch Teile seines Gedächtnisses nahmen.
»Hab … kältet …«, nuschelte er und griff sich an die Kehle.
Ja, klar. Du hast dir was eingefangen. Aber keinen Virus, sondern eine Klinge!
»Nein, nicht!«, rief Linda, als Ender Anstalten machte, den Kopf zur Seite zu drehen, vermutlich, um die verspannte Nackenmuskulatur zu lockern. Er warf ihr einen fragenden Blick zu, als wäre sie es, die mit einem Seziermesser im Körper vor ihm stünde, und nicht umgekehrt.
»Keine ruckartigen Bewegungen«, bedeutete sie ihm.
Linda war sich nicht sicher, ob sie die Situation eher verschlimmerte, wenn sie
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