Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
fragte Herzfeld: »Was schlagen Sie vor?«
Statt einer Antwort sagte der Einsatzleiter nur: »Geben Sie mir eine halbe Stunde.«
»Wofür?«
»Ich sag es Ihnen, falls ich eine Lösung finde.«
Falls?
»Und wenn Sie keine Lösung finden?«
Neben ihm stöhnte Ingolf auf dem Beifahrersitz mit geschlossenen Augen.
»Hat dieses Gespräch nie stattgefunden«, hörte er Leuthner sagen. Dann war die Leitung tot.
45. Kapitel
Helgoland.
I n nur wenigen Stunden hatte sich der Kellerraum der Klinik von einem sterilen, unbefleckten Sektionssaal in ein Schlachthaus verwandelt. Hätte Linda das blut- und schmerzgetränkte Chaos, das sich ihr bot, zeichnen müssen, hätte sie das Bild mit der Überschrift »Werkstatt des Wahnsinns« betitelt. Allerdings bezweifelte sie, dass ihr die Darstellung der Details gelungen wäre, hatte sie doch ihre Probleme mit expliziten Gewaltdarstellungen.
Das von den Wänden reflektierende, indirekte Licht der Taschenlampe, die sie neben dem Ablaufbecken mit dem Kegel zur Decke gestellt hatte, gewährte ihr nur einen schummrigen und ausschnitthaften Blick, aber das, was Linda darin erkennen konnte, drehte ihr den Magen um: zwei verwesende Leichen auf den Seziertischen, das halb geöffnete Kühlfach, ein umgestürzter Instrumentenschrank vor dem Eingang; daneben, auf einer Matratze, ein sterbender Mann mit einem Messer im Hals …
und ich mittendrin.
Linda hielt sich immer noch an dem Hörer des Haustelefons fest, obwohl ihr letztes Gespräch mit Herzfeld schon eine Viertelstunde zurücklag. Sie wusste nicht, ob es ihr mit dem verkeilten Schrank wirklich gelungen war, eine für den Killer unüberwindbare Barriere vor dem Eingang zu errichten. In Wahrheit bezweifelte sie das. Sie konnte nur hoffen, dass derjenige, der sie hier heimsuchen wollte, mittlerweile das Interesse an seinen Opfern in der Pathologie verloren hatte. Und dass Herzfeld schnell einen Weg fand, das Grauen hier zu beenden.
So ein verdammter Mist. Wenn andere jammern, dass sie sich mit den falschen Männern einlassen, dann geht’s um geplatzte Dates und Seitensprünge. Und bei mir?
Sie prüfte noch einmal das Matratzenlaken, das sie notdürftig über Enders Oberkörper ausgebreitet hatte, und der Gedanke daran, dass aller Wahrscheinlichkeit nach bald ein anderes Laken auch sein Gesicht bedecken würde, versetzte ihr einen Stich.
Von allen negativen Emotionen, die sie gerade durchlitt, machte ihr vor allen Dingen das Gefühl der Hilflosigkeit zu schaffen. Ginge es nur um ihr Leben, wäre sie sofort aus der Klinik gerannt und hätte im Gasthaus
Bandrupp
Alarm geschlagen. Aber weder konnte sie Ender einfach so zurücklassen, noch lohnte sich das Risiko, das sie damit einging. Selbst wenn es ihr gelang, die Klinik unbehelligt zu verlassen, hätte sie damit nichts erreicht. Auf der evakuierten Insel gab es keinen erfahrenen Chirurgen, der Ender von seinem Messer befreien konnte. Von einem Anästhesisten ganz zu schweigen.
Andererseits kann ich hier nicht seelenruhig abwarten und ihm beim Sterben zusehen.
Sie nahm die Taschenlampe, leuchtete auf den Seziertisch mit Tövens Leiche und riss erschrocken die Hand vor den Mund: Die Leiche hatte sich verändert.
Nein, sie war verändert w o r d e n.
Als sie das letzte Mal einen Blick auf die Richterin gewagt hatte, hatte sie deren entblößten Hintern betrachten müssen. Jetzt hatte irgendjemand in der Zeit, in der sie sich im Kühlfach versteckt gehalten hatte, den Rock wieder heruntergezogen.
Linda drehte sich zu Ender, dessen Körper auf der Matratze im Zwielicht nur schemenhaft zu sehen war. Sie bezweifelte, dass der Hausmeister in seinem schockbedingten Irrlauf durch die Pathologie Hand an die Leiche gelegt hatte. Allerdings war er auch ans Telefon gegangen.
Das Telefon …
Sie betrachtete den Apparat in ihren Händen und beschloss, ihn wieder in den Werkzeuggürtel über Eriks Leiche zu stecken, damit sie beide Hände frei hatte.
Im Moment herrschte im wahrsten Sinne des Wortes vollständige Totenstille inner- und außerhalb der Pathologie. Seitdem der Strom vollständig ausgefallen
… oder abgestellt? …
war, rauschte noch nicht einmal mehr die Lüftung, und was das sehr bald für Auswirkungen auf die Atemluft hier unten haben würde, mochte Linda sich gar nicht erst ausmalen. Sie wandte sich wieder zu dem zweiten Seziertisch, streifte sich die schweißnassen Hände am Kittel ab und atmete tief durch.
Also los. Auf in die nächste Runde.
Langsam hob sie den
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