Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
wegtrat.
»Könnte auch eine Manipulation sein«, mutmaßte Ingolf, der in der letzten Sekunde seinen Blick abgewandt hatte, um die entsetzlichen Bilder nicht noch einmal sehen zu müssen. »Aber weshalb sollte Martinek sich umbringen und Schwintowski …«
»Schhhh!«, fiel ihm Herzfeld ins Wort und führte mahnend seinen Zeigefinger an die Lippen. »Haben Sie das gehört?«
»Nein. Was?« Ingolf drehte sich wieder zur Kamera.
Herzfeld spulte noch einmal zurück und stellte auf volle Lautstärke.
Tatsächlich. Ich hab mich nicht geirrt.
Ingolf nickte aufgeregt. »Ist das ein Gong oder so etwas?«
Durch das Hintergrundrauschen war es kaum wahrnehmbar, weshalb sie es beim ersten Mal überhört hatten, doch jetzt, da Herzfeld wusste, worauf er achten musste, gab es für ihn keinen Zweifel. »Nein, kein Gong. Das ist eine Uhr.«
Und die habe ich heute schon einmal gehört.
»Stimmt«, pflichtete Ingolf ihm bei. »So ein altes Ding steht bei uns zu Hause in der Bibliothek.«
»Und irgendwo auf Helgoland.«
Herzfelds Puls beschleunigte sich. Bis jetzt hatte er nur vermutet, dass Hannah auf der Insel festgehalten wurde. Der Fundort der Leichen musste nicht auch der Ort ihres Verstecks sein, und außerdem hatte er den ersten Hinweis auf seinem Berliner Seziertisch gefunden. Doch jetzt gab es endlich eine konkrete Spur auf Helgoland. Es war erst wenige Stunden her, da hatte er eine Standuhr anschlagen hören, während er mit Linda telefoniert hatte. Er war sich nur nicht mehr sicher, wo genau sie in diesem Augenblick auf der Insel gewesen war.
»Geben Sie mir Ihr Handy«, forderte er.
Ingolf schüttelte bedauernd den Kopf und zog sein Funktelefon aus der Tasche seiner Jogginghose. »Das funktioniert nicht mehr«, sagte er. »Martinek hat den Akku und die SIM -Karte entfernt, während ich bewusstlos war.«
Verdammt. Aber nicht anders zu erwarten.
»Dann müssen wir wohl zu einer Telefonzelle fahren.«
Herzfeld wollte gerade die Kamera vom Stativ lösen, um sie als Beweismittel mitzunehmen, als Ingolf ihm in den Arm fiel.
»Was ist denn?«
»Wollen Sie denn nicht erst testen, ob die WLAN -Verbindung noch steht?«
»Wie meinen Sie das?«
Ingolf tippte mit dem Zeigefinger auf die rote LED -Leuchte.
»Mir scheint, Ihr Kollege war ein Technik-Freak. Erst der Tablet- PC , bei dem man den Bildschirm abschrauben kann, jetzt eine internetfähige Kamera.«
»Soll das etwa heißen, alles, was wir hier gesehen haben, ist online?«
Das Geständnis, die Vorwürfe, die Selbsttötung?
»Nein. Aber irgendwie muss das Videofile ja von der Insel hier in den Bauwagen gekommen sein. Und da vermute ich mal, Schwintowski hat per Videochat seinen Freitod direkt in den Speicher hier übertragen. Rein technisch gesehen wäre das mit diesem Modell jedenfalls möglich.«
Ingolf bat Herzfeld, zur Seite zu treten, und drückte auf verschiedene Knöpfe an dem Seitengehäuse der Kamera. Mehrere Zahlen- und Datenreihen ersetzten das Bild von Schwintowskis in der Luft baumelndem Körper.
Ingolfs Hände zitterten, und seine Finger hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Bildschirm, aber er brauchte nicht lange, um zu einem ersten Fazit zu gelangen: »Es ist so, wie ich es mir gedacht habe.« Er drehte sich zu Herzfeld um, der vergeblich zu verstehen versuchte, was der Praktikant da gerade überprüft hatte.
»Schwintowski hat einen anonymen Chataccount gewählt, seine Kamera auf der Insel also als Bildtelefon benutzt. Und Martinek hat die Aufzeichnung mit dieser Kamera hier protokolliert und abgespeichert.«
»Und?«
»Leider gibt es kein
und.
Die Verbindung steht schon seit Tagen nicht mehr, weshalb ich keine …« Ingolf hörte mitten im Satz auf zu sprechen und reagierte auch nicht, als Herzfeld ihn nach dem Grund dafür fragte. Stattdessen hielt er die Kamera jetzt mit beiden Händen fest und versperrte Herzfeld die Sicht auf das, was er an ihr verstellte.
»Hah«, rief er plötzlich erregt, und als er wieder vom Stativ zurücktrat, lag eine Mischung aus Euphorie und Furcht in seinem Gesichtsausdruck.
»Was ist?«
»Wie gesagt, der Chatraum mit Schwintowski ist längst geschlossen. Aber ich sehe im Verlaufsprotokoll, dass Martinek sich in den letzten Tagen immer mal wieder in eine andere Verbindung eingewählt hat.«
Noch bevor Herzfeld nachfragen konnte, hatte Ingolf bereits einen Link auf dem Touchscreen angetippt, und eine rotierende Sanduhr zeigte sich in der Mitte des Monitors.
Es dauerte nicht einmal zehn Sekunden,
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