Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Tätowierer, der sie warnte, dass die Stelle besonders weh tat
Sie erinnerte sich daran, dass sie das Abi machen wollte und gut in Mathe und Sport war – aber das reichte ihr nicht.
»Ich will nicht sterben!«, flüsterte sie und schluckte heftig. »Nicht, ohne zu wissen, warum.«
Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, dann sagte sie etwas lauter: »Und nicht, ohne zu wissen,
wer
ich bin.«
Trotzdem rappelte sie sich wieder auf und humpelte zur Pritsche zurück. Besser, sie zeigte sich wieder, bevor der Irre zurückkam. Auf dem kalten Boden liegen zu bleiben, würde ihre Erinnerung auch nicht wieder in Gang setzen.
Nachdenken konnte sie auch mit einem Strick um den Hals.
53. Kapitel
D as wird nicht funktionieren«, protestierte Ingolf, der Mühe hatte, Anschluss zu halten. Herzfeld stakste eilig durch den knöchelhohen Schnee über die Lichtung zum Porsche zurück. Die vom Stativ hastig abgeschraubte Videokamera trug er unter seiner Daunenjacke verborgen, wobei er feststellen musste, dass diese Vorsichtsmaßnahme unnötig war.
Leuthner hatte recht behalten. Wie um sie zu verhöhnen, hatte sich das Wetter merklich gebessert, und es bestand keine Gefahr, dass die Kamera durch Wind oder Niederschlag beschädigt werden könnte. Der Sturm war zu einer steifen Brise geworden, und entgegen jeder Vorhersage fanden sogar einige wenige Strahlen der Abendsonne ihren Weg durch die aufgerissene Wolkendecke.
»Beeilung«, rief Herzfeld und drehte sich kurz nach hinten um, um zu sehen, wo Ingolf blieb. Der Praktikant rieb sich fröstelnd die Arme, die er eng um den Oberkörper geschlungen hatte. Wegen seines dunklen Jogginganzugs schien er vor der grauschwarzen Kulisse des Waldes und der geschlagenen Holzstämme hinter ihm nahezu zu verschwinden.
»Wir können nicht fahren«, keuchte er, und Herzfeld beschlich eine dunkle Vorahnung: »Hat er Ihnen die Schlüssel abgenommen?«
»Ja, aber das ist nicht das Problem. Ich hab noch einen Ersatzschlüssel im Wagen versteckt.«
»Okay, dann nichts wie los.« Herzfeld stapfte wieder voran, dem Porsche entgegen, dessen Innenbeleuchtung immer noch brannte, weil drei der vier Türen offen standen.
»Wir müssen in den nächsten Ort. Hilfe holen.«
Herzfeld hatte keine Ahnung, wie die Wetterverhältnisse auf offener See waren, aber er vermutete, unter diesen Bedingungen würde zumindest ein Rettungshubschrauber eine Starterlaubnis erhalten. Ganz gleich, ob Leuthner, BKA , Polizei oder Rettungsleitstelle – er musste sich unbedingt mit jemandem in Verbindung setzen, bevor das Wetter wieder umschlug.
Und bevor meine Tochter in den Tod gesprungen ist.
Er hatte nur ein leeres Drahtgestell und nackte Wände gesehen, mehr hatte die Kamera nicht eingefangen, weil sie sich in die hinterste Ecke des Kellers verkrochen hatte, wie er aus ihren Atemgeräuschen hatte schließen können. Aber der Strick an dem Fleischerhaken sprach Bände. Er signalisierte ihm, dass Hannah kurz davorstand, das Schicksal von Martineks Tochter zu teilen. Schwintowski hatte ihm die Augen geöffnet. Es war Sadlers Masche, seine Opfer so lange zu quälen, bis sie vor den Augen seiner Kamera aus Angst vor weiterer Folter den Freitod wählten. Zwar lag Sadler jetzt schon seit einem Tag tot auf Lindas Seziertisch. Aber was hatte der Sadist Hannah alles angetan, bevor er gegangen war? Welche Qualen hatte er ihr angekündigt?
Und wie lange hatte sie allein und verlassen in ihrem Verlies in Erwartung unvorstellbarer Schmerzen gehockt? Sicher lange genug, um ihre Seele zu brechen.
Sadler mochte nicht mehr am Leben sein. Aber die Saat, mit der er Hannahs Psyche vergiftet hatte, war es immer noch. Und aus diesem Grund hatte ihn Schwintowski angespornt, sich zu beeilen.
Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis Hannah ihre letzte Entscheidung traf.
Und sprang.
»Wo genau liegt der Ersatzschlüssel?«, erkundigte sich Herzfeld, als er den Feldweg erreicht hatte. Unter der Schneedecke war die Erde durch den Dauerfrost hart wie Beton und wäre für den Geländewagen problemlos befahrbar gewesen. Wenn da nicht …
»Nein, nein, nein!«, schrie Herzfeld und schlug sich mit beiden Händen gegen die Schläfen. Ingolf, der zu ihm aufgeschlossen hatte, nickte bedauernd und machte alles nur noch schlimmer, als er sagte: »Es tut mir so leid.«
Ach ja? Es tut dir leid, dass meine Tochter sich gerade auf Helgoland erhängt, während wir hier hilflos im Wald hocken? Ohne Handys? Ohne Auto?
Ihre Situation
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