Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
Kaiserpfalz Ingelheim eine mehrtägige Rast einzulegen. Der Königin ging es wieder schlechter. Die Beschwernisse der Reise bei meist stürmischem, regnerischem Wetter, auf holprigen Wegen, mit dem fast täglichen, gewöhnlich von manchen Ungelegenheiten begleiteten Wechsel des Aufenthalts, hatten die Kräfte der schmalen, zarten, zerbrechlichen Frau fast aufgezehrt. Sie erhob sich kaum noch von ihrer Wagenbank, auf der sie in Decken und Felle eingehüllt lag, hustend, mit Schmerzen an allen Gliedern, noch immer unter den Folgen des Unfalls leidend. Auch die siebenjährige Liutgard hatte sich erkältet und fieberte. Edgith bat Otto deshalb, ihr und den Kindern die Teilnahme an seiner zweiten Heerfahrt nach Bayern zu erlassen. Das Kloster Lorsch war in der Nähe, ein Ort, der ihr angenehm und vertraut war. Hier wollte sie sich erholen und auf ihn warten, so lange, bis sie wieder gemeinsam in ihr geliebtes Magdeburg zurückkehren konnten. Otto trennte sich ungern von seiner Familie, doch er sah ein, dass es sein musste, und stimmte zu. Nur an den wenigen Tagen der Rast in Ingelheim wollte er die drei noch um sich behalten.
|117| Die berühmte Pfalz mit der prachtvollen
aula regia
und der anmutigen, halbrunden, von Arkaden gesäumten Exedra bot ausreichend Platz und Bequemlichkeit, war gut gesichert und mit Vorräten versehen. Wieder gab es zur Unterhaltung Waffenspiele, auch Gaukler und Musikanten fanden sich ein. Edgith hielt sich von allem fern und erhob sich kaum von ihrem Schmerzenslager. Als sie jedoch hörte, es sei ein berühmter Sänger und Harfenschläger gekommen, der aus dem „Heliand“ vortragen werde, raffte sie sich auf, ließ sich ankleiden und die Haare unter einem Perlennetz ordnen. Zu Ottos Freude erschien sie in der Königshalle, nahm neben ihm Platz und lauschte dem Vortrag. Sie kannte das Werk, das ein unbekannter Dichter, vielleicht ein Mönch, vielleicht ein Skalde, vor einem Jahrhundert in sächsischer Sprache verfasst hatte. Sie besaß sogar eine Handschrift in schöner Minuskel mit der Geschichte vom Herrn Christ und seiner Gefolgschaft. Viele der Stabreime kannte sie auswendig. Als der weißbärtige Sänger mit seiner tiefen, kraftvollen Stimme zu einer Stelle der Dichtung kam, die sie besonders liebte, schloss sie die Augen und bewegte die Lippen, leise die Verse mitsprechend:
„Selig, dem milde war
Das Herz in der Heldenbrust:
Ihm wird der heilige Herr,
der Mächtige, mild …“
Sie blickte Otto von der Seite an und bemerkte, dass er nicht zuhörte. Er hatte den Kopf gehoben und schien auf etwas zu lauschen, was draußen, außerhalb der Halle vor sich ging. Unter den Zuhörern, einigen hundert Höflingen, geistlichen und weltlichen Würdenträgern, Vasallen und Kriegern, kam plötzlich Unruhe auf. Von draußen hörte man Pferdegetrappel, erregte Stimmen.
Der Sänger verstummte.
Die Tür wurde aufgerissen und zwei Männer stürmten herein. Ein großer Blonder ganz vorn, im von Narben entstellten Gesicht eine frische Hiebwunde über Nase und Wange. Der andere struppig, klein und dunkel, mit großen Flecken getrockneten Blutes auf Mantel und Hosen. Hinter ihnen drängten andere herein, verwundet, verdreckt, mit Lanzen und Knüppeln in den Fäusten.
Die Männer in der Halle erkannten die beiden Ersten und schrien ihre Namen.
„Maincia! Thiadbold!“
|118| Otto sprang auf und trat ihnen entgegen.
„Von Heinrichs Gefolgschaft? Was gibt es?“
„Verrat, Herr!“, schrie Maincia, der Große mit der Hiebwunde. „Euer Bruder, Herr Heinrich – gefangen genommen! Wie ein gemeiner Knecht in Ketten gelegt!“
„Wer hat das gewagt?“
„Euer anderer Bruder – Herr Thankmar.“
„Thankmar? Aber wie …“
„Ein Überfall, Herr, auf die Burg Belecke!“, rief Thiadbold, der Struppige. „Nachts, in aller Frühe. Sie kamen über die Mauer, überwanden die Wachen. Waren drinnen, ehe wir auffuhren aus dem Schlaf. Es gab ein Gemetzel.“
„Wann geschah das?“
„Am vierten Tag, von heute gerechnet.“
„Ihr habt Thankmar erkannt?“
„Wie denn nicht! Er hat mir selbst diese Wunde geschlagen“, erwiderte Maincia, auf sein entstelltes Gesicht deutend.
„Und Heinrich? Wo ist er jetzt?“
„Wer kann das wissen? Wir wollten es ja verhindern, aber das war unmöglich! Sie waren zu viele, sie schleppten ihn fort. Es waren Franken. Herzog Eberhards Leute. Goderam war dabei, auch Rothger, der Dicke.“
„Und Eberhard selbst?“
„Den hat niemand gesehen. Aber er soll dabei
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