Abgründe der Macht - Roman über einen Sachsenkönig
ahnte, dass dies nicht der richtige Augenblick war, ihm einen weiteren Schlag zu versetzen.
„Wer bin ich?“, begann er selbst nach einer Weile. „Ein König? Oder bin ich nur noch ein Gespenst? Wie? Bin ich nicht wirklich, sodass man tun kann, als sei ich überhaupt nicht vorhanden? Als sei es gleichgültig, ob ich belohne oder bestrafe? Als sei eine Ladung vor mein Gericht kein Befehl, sondern nicht mehr als ein warmer Wind?“
„Was ist geschehen?“, fragte Edgith.
„Sie werden nicht kommen. Kurzbold hat alle getroffen, Eberhard, Bruning, die Hundeträger … und noch einen.“
„Wen?“
„Heinrich. Das Bürschlein hält es mit Bruning. Spielt den Beschützer aller Sachsen, die sich von ihrem König verraten fühlen. Von mir verraten!“, stöhnte Otto. „Was soll ich tun? Soll ich sie mit Gewalt hierher bringen? Und habe ich dazu noch die Macht? Wo bleibt Hermann Billung? Hätte ich nur Nachricht von Giselbert, dass er mir mit seinen Lothringern beisteht …“
|115| Edgith brachte es während der Nacht nicht mehr fertig, ihm darauf zu antworten. Wach und verzweifelt lag sie neben ihm, während er weiterredete, die Stimme hebend und senkend, bald nur noch flüsternd, dann wieder donnernd, mal halb im Schlaf, mal auffahrend und mit geballter Faust unsichtbare Feinde bedrohend. Die Kerze erlosch und der Morgen graute, als er endlich Ruhe fand. Edgith fand keine und dachte unentwegt darüber nach, wie sie ihm die Botschaft des Bischofs beibringen sollte. Sie tat es gleich nach dem Erwachen, als er benommen, mit schwerem Kopf vom übermäßig genossenen Wein, noch nicht imstande war, seiner Wut den gewöhnlichen Ausdruck zu geben. Er starrte düster vor sich hin, trank ab und zu einen Schluck Milch und brummte nur: „Ich ahnte es … ja, ich ahnte es schon lange. Giselbert, der räudige Fuchs …“ Sie bat ihn um Schonung für seinen so schnöde behandelten Gesandten, den er, nachdem er ihn angehört hatte, mit der Bemerkung entließ: „Mach, dass du nach Hause kommst, Bischof! Aber mit einem Umweg über Quedlinburg. Erzähle deiner Heiligen, was für ein frommes Werk sie tat, als sie meinen Vater überredete, meine fünfzehnjährige Schwester mit diesem Schurken zu verkuppeln!“
Seiner Ohnmacht bewusst, hatte Otto es nun eilig, den Hoftag zu Ende zu bringen. Inzwischen waren aus den umkämpften Grenzgauen Geschädigte herbeigeeilt, die sich unter die Versammelten mischten und den König mit zornigen Reden zum Eingreifen aufforderten. Als sie ihn zögern sahen, wurden höhnische Rufe gegen ihn laut und es fehlte nicht viel, dass Franken und Sachsen vor seinen Augen auf einander losgingen.
Zum Glück traf Hermann Billung mit mehreren hundert sächsischen Reitern ein und die Ordnung wurde wiederhergestellt. Doch obwohl er damit seine Streitmacht erheblich verstärkte, widerstand Otto der Versuchung, sofort einen Feldzug gegen die Friedensstörer zu unternehmen. Auch Hermann Billung und Konrad Kurzbold rieten ab. Gebrannt, gemordet, geplündert werde ja an verschiedenen Orten, die Fehdebrüder gingen in kleineren Haufen vor, hätten überall Stützpunkte. Man könnte einzelne Rotten vernichten, doch nirgendwo würde man sie zu einer Schlacht stellen können. Wie sollten Panzerreiter in der Wildnis ihre Kampfkraft entfalten!
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Ein paar Tage später waren sie wieder unterwegs, und nachdem sie in der Pfalz Duisburg, dem einstigen römischen Brückenkopf, gerastet und auf Schiffen den Rhein überquert hatten, folgten sie dem Fluss in der Richtung, aus der sie gekommen waren.
Der König wollte mit seiner verstärkten Heeresmacht erst einmal die Schmach der vergeblichen, abgebrochenen Belagerung Regensburgs vergessen machen. Er musste die Bayern zwingen, ihm den Treueid zu leisten. Was er damit riskierte, war ihm bewusst. Unterlag er, würden sich seine Gegner vereinen und über ihn herfallen. Er würde des Thrones verlustig gehen, vielleicht mit fünfundzwanzig Jahren sein Leben verlieren. Aber er hatte keine andere Wahl. Er brauchte jetzt den Erfolg. Er musste beweisen, dass er trotz aller Niederlagen und Unglücksfälle das Königsheil hatte und dass der Himmel ihm gnädig war. Noch schlimmer als Schwäche war das Eingeständnis der Schwäche.
Als der lange Zug des königlichen Gefolges und des Reichsheers fast dreihundert Meilen in südlicher Richtung zurückgelegt hatte, erreichte er in den ersten Junitagen das Mündungsgebiet des Mains und Otto beschloss, in der alten karolingischen
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