Abgründe (German Edition)
sie zurück und parkte seinen Wagen. Dann nahm er seufzend den Topf mit dem Stiefmütterchen vom Beifahrersitz und stieg aus.
Das Psychiatrische Center von Virginia Beach war ein großer, kastenförmiger Bau, etwa drei Kilometer vom Ozean entfernt. Von Madisons Zimmer aus hatte man eine beeindruckende Aussicht, aber sie hielt die Vorhänge meist geschlossen.
»Das ist jetzt mein Stiefschwesterchen.« Madison stellte die Topfpflanze zu ihrer Sammlung verdorrter Stiefmütterchen auf die breite Fensterbank ihres geräumigen Zimmers. »Ich nenn' sie treulose, alte Schlampe!« Sie kritzelte den Namen mit schwarzem Edding auf den terrakottafarbenen Topf.
Ethan trat zu ihr ans Fenster und legte ihr eine Hand auf die unversehrte Schulter.
»Madison... versuch bitte, nicht immer so negativ zu sein. Okay?«
Madison drehte sich zu ihm um und ihr Anblick traf ihn wie jedes Mal mit unvermittelter Wucht. Die rechte Gesichtshälfte zeigte eine hübsche, junge Frau. Perfekter Teint, ein stechend grünes Auge und volle Lippen. Das rotblonde Haar fiel ihr leicht gewellt bis auf die Schulter. An der linken Seite wuchsen ihr keine Haare, weshalb sie ein paar Strähnen von rechts über den kahlen Kopf gekämmt hatte. Ihre Gesichtshaut war zerfurcht und von Narben durchzogen, an manchen Stellen gerötet, an anderen unnatürlich weiß. Das linke Auge war blind und kaum mehr als solches zu erkennen, die Lider waren ungleichmäßiges, verwachsenes Gewebe. Ihre Nase war nahezu unverletzt, aber ihr Mund war an der linken Seite verzerrt nach unten gezogen wie bei einem traurigen Clown aus einem Horrorfilm. Was von Hals und Schulter zu sehen war, ließ erahnen, dass es an der linken Seite ihres Körpers nicht viel besser aussah als im Gesicht. Über der linken Hand, die so gut wie unbeweglich war, trug sie einen Handschuh und wenn sie lief, hinkte sie. Jeder Schritt bereitete ihr sichtlich Schmerzen.
»Ich bin nich' negativ!«, schnappte sie. »Ich bin aussätzig. Die haben wohl Angst, ich bin ansteckend!« Sie ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
Mit fünfzehn Jahren war sie von einem Wahnsinnigen entführt und anschließend angezündet worden. Ihre Familie, perspektivloser weißer Abschaum, wie Madison sie nannte, war mit der Situation nicht zurecht gekommen. Sie hatten nicht akzeptieren wollen, dass Madison zu einem Pflegefall geworden war, hatten ihr jegliche Hilfe verweigert und letztendlich den Kontakt zu ihr abgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Madison sich bereits in einer Klinik für psychisch gestörte und traumatisierte Menschen befunden. Es war eine gute Klinik, dafür hatte Ethan gesorgt, aber das entschädigte sie nicht für ihr verpfuschtes Leben.
»Was meinst du, wollen wir eine Runde durch den Park laufen?«, startete er einen hoffnungsvollen Versuch. Sie hatte sich nach der Entführung jahrelang geweigert, sich außerhalb vom vermeintlichen Schutz geschlossener Gebäude aufzuhalten, doch sie hatte Fortschritte gemacht. Manchmal, vor allem in der letzten Zeit, ließ sie sich zu einem kleinen Spaziergang mit Sonnenbrille und Kapuze überreden.
»Das kannste dir mal schön abschminken!«
»Komm schon, Maddi. Das Wetter ist toll, es ist warm...«
»Ethan!« Sie blickte ihn zweifelnd aus ihrem einzigen Auge an. »Da draußen läuft ein Bekloppter rum und sticht Frauen ab. Glaubst du, ich bin blöd? Glaubst du, ich krieg' hier keine Zeitung zu lesen, oder was?!«
»Du hast Polizeischutz.«
»Schönen Dank auch!« Sie holte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche ihrer Jogginghose und verkündete mit Grabesstimme: »Setz dich, wir müssen reden.«
Widerwillig nahm Ethan auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz. Sie ließ ein Feuerzeug auflodern und steckte sich eine Zigarette an. Er zuckte unmerklich zusammen, aber sie kannte ihn. Ein sarkastisches Grinsen umspielte ihre Züge.
» Verbrannt ist alles ganz und gar, das arme Kind mit Haut und Haar. Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’, so hübsch und fein «, zitierte sie in ihrem besten Detroiter Dialekt und warf einen missbilligenden Blick auf ihre Turnschuhe.
Ethan fröstelte. So hatte er sie lange nicht erlebt. Er lehnte sich zurück, um seine Anspannung zu verbergen und sie blies Ringe in Richtung des Fensters.
»Was ist mit dir, Madison?«
»Das weißt du doch genau!«
»Dann würde ich nicht fragen. Musst du wieder operiert werden? Sind die Kopfschmerzen schlimmer geworden?« Es war den Ärzten damals nur mit Mühe und Not gelungen, die
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