Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
Notarzt verursacht worden waren. Dieser stellte den Tod fest und attestierte als Todesart einen »nicht natürlichen Tod«. Als Todesursache trug er in die Todesbescheinigung ein: »Verbluten nach innen und außen infolge mehrerer Messerstiche in den Thorax«. Der Mann könne noch nicht allzu lange tot sein, zwischen zwei und vier Stunden, schätzte er. Der Polizeiapparat lief an.
Es gab keine Zeugen. Was fast zu erwarten war bei dieser Örtlichkeit. Weil man aber laute Hilfeschreie aus der Unterführung auch an der Oberfläche bis hin zu den angrenzenden Häusern durchaus hätte hören können, wurde noch in der Nacht durch Kräfte der Einsatzhundertschaft eine sogenannte Hausbefragung durchgeführt. Die Anwohner hatten durchwegs Verständnis dafür, mitten in der Nacht geweckt worden zu sein, als sie
hörten, was passiert war. Aber niemand hatte etwas gehört oder gesehen.
Selbstverständlich hatte die Einsatzzentrale der Polizei sofort nach Entdeckung der Leiche eine allgemeine Fahndung ausgelöst, was zur Kontrolle aller Personen führte, die rund um den Tatort angetroffen wurden. Die Ausbeute war spärlich. Außer einem Obdachlosen, der im Tonnenhäuschen im Hinterhof eines Mehrfamilienhauses in der Nähe schlief, war niemand rund um den Tatort angetroffen worden. Der Mann wurde geweckt und faselte irgend etwas Unverständliches daher. Immerhin stellte man seine Personalien fest. Er hieß Franz W., war 62 Jahre alt, ohne festen Wohnsitz und erweckte nicht den Eindruck, als ob er jemanden überfallen und umbringen könnte. Bei einer groben Sichtung seines Gepäcks fiel den Polizisten nichts Außergewöhnliches auf.
Der Erkennungsdienst forderte den großen Beleuchtungswagen an, da das düstere Licht in der Unterführung absolut unzureichend war. Einsatzkräfte suchten noch in der Nacht zumindest die unmittelbare Umgebung vordringlich nach dem Tatmesser ab. Derartige Maßnahmen dulden keinen Aufschub. Einerseits wegen der eventuell daran noch feststellbaren Spuren, andererseits hätte ja jemand anderer zufällig die Waffe finden können. Es ist sogar schon vorgekommen, dass Täter an den Tatort zurückgekehrt sind, um das Corpus Delicti zu holen, das sie in der ersten Erregung weggeworfen oder verloren hatten. Es wurde nichts gefunden: keine Tatwaffe, keine Fußabdrücke, einfach nichts.
Die erste Frage, die man sich in einer solchen Situation stellt, lautet: War der Mann ein Zufallsopfer oder lag eine Beziehungstat vor? Was man unter Umständen erst
dann wissen kann, wenn sich ein Tatmotiv abzeichnet. Mein Lehrmeister sagte immer: »Wir können gar nichts ausschließen. Nicht einmal, dass morgen die Welt untergeht.« Also halten sich erfahrene Ermittler mit Spekulationen und Mutmaßungen zurück und beschränken sich auf Fakten, aus denen sie dann aber ihre Schlussfolgerungen ziehen müssen, allein schon aus Fahndungsgründen. Hätte man also wenigstens gewusst, ob man Mann oder Frau, eine, zwei oder mehrere Personen suchen soll, wäre uns schon viel geholfen gewesen. Im vorliegenden Fall aber waren die Fakten äußerst dünn gesät. Man wusste nur, dass der Mann auf dem Heimweg von einem Saunabesuch war und hier erstochen wurde, wobei Auffindungsort und Tatort augenscheinlich identisch waren.
Wenn man mit solch dürftigem Wissen als Ermittler nachts an der Leiche eines erstochenen Mannes steht, die vor einem am dreckigen Boden einer trostlosen Fußgängerunterführung liegt, beginnt man bei null. Man weiß nichts über das Opfer und hat keine Hinweise auf den oder die Täter. Also fängt man erst einmal mit den üblichen Routinemaßnahmen an. Man checkt sozusagen durch, was man sofort zu tun hat, was als Nächstes, was noch in dieser Nacht und was Zeit hat bis zum Morgen bzw. nächsten Tag. Wichtig ist nur eines: Man darf nichts vergessen, nichts übersehen. Denn Fehler, die man in dieser ersten Phase macht, sind meist nicht wiedergutzumachen. Und Spuren, die vernichtet oder nicht rechtzeitig gesichert wurden, sind unwiederbringlich verloren und können eventuell sogar den Aufklärungserfolg kosten. Deshalb hat in einem Fall wie diesem die Tatortarbeit erste Priorität.
Die Tatortgruppe des Erkennungsdienstes begann sofort
mit ihrer Arbeit. Dabei arbeiten sich die Erkennungsdienstler von außen nach innen zur Leiche vor. Erst dann wird sie zur Obduktion ins Institut für Rechtsmedizin abtransportiert. Die Berechnung des Todeszeitpunktes ist äußerst kompliziert und kann meist nur anhand des Mageninhaltes
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