Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
präzisiert werden. Und selbst dann wird man nie eine genaue Zeitangabe erhalten, sondern allenfalls eine Zeitspanne, die mehrere Stunden umfasst. Wichtig ist für uns Ermittler letztendlich, ob sich die kriminalpolizeilichen Ermittlungen mit den Berechnungen der Mediziner decken.
Einer Antwort auf die Frage, ob es sich hier um eine Beziehungstat oder um ein Zufallsopfer gehandelt haben könnte, konnte man sich vorerst nur durch das sogenannte Ausschlussverfahren zu nähern versuchen.
Auf den ersten Blick war ein Raubmord naheliegend, weil nämlich die Sporttasche des Mannes fehlte, wie wir alsbald wussten. Allerdings steckte die Geldbörse mit mehreren Hundert Euro Inhalt in der rechten hinteren, zugeknöpften Gesäßtasche. Offensichtlich war nicht einmal der Versuch unternommen worden, sie herauszuziehen. Die teure Armbanduhr, deutlich sichtbar am linken Handgelenk, war dort belassen worden. Ein kleines Lederetui mit Scheckkarten, Ausweisen, Führerschein usw. fand sich noch in der linken inneren Brusttasche der Regenjacke. Diese war über der linken Schulter bzw. den linken Arm etwas heruntergezogen worden, als wäre er hier gepackt, festgehalten oder herumgerissen worden. Freilich könnte man fragen, ob der Täter gestört worden sein könnte und sich mit der Sporttasche zufriedengeben musste. Oder hatte er es von Haus aus nur auf die Sporttasche abgesehen? Über die Ehefrau war inzwischen bekannt
geworden, dass in der kleinen, dunkelblauen Sporttasche lediglich ein Bademantel, Handtücher, Duschgel und noch ein paar kleinere Utensilien gewesen sein dürften. Also war auch an die Möglichkeit zu denken, dass der Täter die Tasche mitgenommen hat, weil er eventuell an ihr Spuren hinterlassen hat. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal gewesen, dass ein Täter derart rational reagiert hätte.
Nur für den Fall, dass es doch kein Raubmord war, wäre als Nächstes die Tat eines Wahnsinnigen in Erwägung zu ziehen. Unmotivierten Angriff nennt man solche Attacken, die scheinbar keinen Sinn machen. Wer sticht schon nachts in einer Fußgängerunterführung völlig grundlos einen Mann nieder? Ohne ihn berauben zu wollen und ohne dass es zu einer Auseinandersetzung aus welchen Gründen auch immer gekommen war. Kann das wirklich nur ein Geistesgestörter gewesen sein? Einer, der unter paranoiden Wahnvorstellungen leidet und in dem Mann einen Feind oder eine Bedrohung gesehen hat? Oder einer, der im Drogenrausch Halluzinationen hatte? Fragen über Fragen, die man sich stellt und die in einem arbeiten, während man nach außen hin seine Maßnahmen abspult.
Ein Sexualmord war auszuschließen. Keinerlei Spuren oder Hinweise. Verdeckung einer Straftat? Hatte er vielleicht zwei Drogendealer überrascht? Ebenso unwahrscheinlich. Sie hätten Dr. W. herannahen sehen und hätten das Weite gesucht. Diese Typen sind nämlich ziemlich licht- und publikumsscheu.
Natürlich durften wir auch eine Beziehungstat nicht außer Acht lassen. Zumal es sich bei ca. 80 Prozent aller Tötungsdelikte um Fälle handelt, bei denen sich Täter
und Opfer zumindest gut kannten oder in einer engen Beziehung zueinander standen. Es würde zu überprüfen sein, ob jemand aus dem familiären Umfeld oder dem sonstigen Verwandten-, Bekannten-, Freundes-, Kollegen- oder auch Patientenkreis einen Grund gehabt haben könnte, diesen Mann umzubringen oder umbringen zu lassen. Er wäre nicht der erste Arzt, der von einem fanatischen Patienten oder Angehörigen getötet worden ist. Aber ein HNO-Arzt? Könnte der überhaupt einen Patienten so verpfuschen, dass sich Rachegelüste aufbauen?
Eines der Mordmotive fiel uns nicht ein in dieser Nacht, weil es so selten ist: Mordlust. Reine Mordlust als Motiv erleben 99,9 Prozent aller Kriminalbeamten nicht ein einziges Mal in ihrem Berufsleben. Es gehört zur Kategorie der niedrigen Beweggründe und ist das Motiv, das am schwersten nachvollziehbar ist, weil es so unbegreiflich erscheint.
Von Mordlust spricht man, wenn jemand Freude an der Vernichtung eines Menschenlebens hat bzw. das Verlangen verspürt, jemanden sterben zu sehen. Die Ursachen sind vielfältig. Meist sind es aber sadistisch veranlagte Menschen, die so etwas fertigbringen. Nicht zu verwechseln mit jenen, die im Drogenrausch oder aufgrund psychischen Defektes morden. Mordlust kann jedoch auch die Folge von Langeweile, Neugier oder Angeberei sein, ebenso wie die von Wut, Hass oder Rachegedanken. Kennzeichnend ist bei diesem Mordmotiv, dass die Opfer
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