Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
und mitgenommen. Schließlich sei er auch schon oft genug beklaut worden. Aber er habe dem Mann nichts getan. Als er in der Zeitung las, dass der Mann umgebracht wurde, habe er es vorgezogen, aus der Gegend dort zu verschwinden.
Die Vernehmung von Franz W. dauerte mehrere Stunden. Dabei wurde immer deutlicher, dass er die Wahrheit sagte. Seine Angaben waren kontinuierlich schlüssig und ohne Widersprüche, auch bei Wiederholungen und trotz raffinierter Fangfragen. Ich glaubte ihm. Und auch für die Kollegen war er eher ein wichtiger Zeuge als ein Tatverdächtiger. Weil er nämlich jemand gesehen hatte, der vom zeitlichen Ablauf her der Täter hätte sein können und wahrscheinlich sogar war. Einen großen, jungen Mann, der wegen seiner »komischen Frisur« ausgesehen habe wie Dschingis Khan. Franz W. hatte nämlich früher einmal einen Film über den Mongolen-Herrscher Dschingis Khan gesehen und da trug dieser einen Pferdeschwanz. Und genau so einen hatte auch der junge Mann getragen, der aus der Unterführung herausgerannt kam, als er gerade darauf zuging. Er selbst sei auf dem Weg vom Ostpark hinüber zur Nordseite, zu seinem Schlafplatz, gewesen. Als er noch zehn oder 20 Meter vom Eingang der Fußgängerunterführung entfernt gewesen sei, sei von
dort unten dieser junge Mann hochgerannt gekommen und in entgegengesetzter Richtung, also in Richtung U-Bahn-Station, davongelaufen. Er habe nur gesehen, dass er ziemlich jung war, groß, schlank und das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Das Gesicht hatte er nur von der Seite gesehen und deshalb konnte er es nicht beschreiben. Auch an die Kleidung konnte er sich nicht mehr erinnern, irgendwie dunkel. Die Uhrzeit wusste er auch nicht, da er keine Uhr besitze und auch nicht nach der Uhr lebe. Vom Gefühl her würde er sagen, es sei auf jeden Fall noch vor Mitternacht gewesen, seiner üblichen Zeit, zu der er sich zurückziehe. Er glaubte nicht, dass ihn der junge Mann gesehen hatte, da er aus der Dunkelheit kam. Auf die Frage, ob er den Täter wiedererkennen würde, antwortete er ein ganz klares »Nein!«.
Frank W. musste eine Nacht in der Haftanstalt im Polizeipräsidium bleiben, worüber er nicht böse war. Um keine Entzugserscheinungen erleiden zu müssen, bekam er eine Flasche Bier. Was wohl nicht viel war für ihn, aber besser als gar nichts. An der Sporttasche von Dr. W. sowie am Bademantel wurden keinerlei Blutspuren gefunden. Das ließ den Rückschluss zu, dass sie bereits weggenommen wurden, als noch kein Blut nach außen gedrungen war bzw. als sich noch keine Blutlache gebildet hatte. Das bewies zwar nicht, dass Franz W. nicht doch zugestochen haben könnte, aber es deckte sich mit seinen Angaben und Schilderungen. Und von dem Zeitpunkt, als er den jungen Mann weglaufen gesehen hatte, bis zu dem Zeitpunkt, als er die Tasche an sich nahm, waren allenfalls zwei oder drei Minuten vergangen. Es konnte also stimmen, dass sich in dieser kurzen Zeit
noch keine Blutlache gebildet hatte. Denn nach Angaben von Franz W. lag die Tasche in einem Abstand von etwa 30 Zentimeter neben dem Mann, als er sie sich angelte und schnell weiterging.
Die Angaben des Franz W. waren hinsichtlich der Beschreibung zu dürftig, um danach ein Phantombild bzw. ein Fahndungsporträt fertigen zu lassen. Und nichts ist schlimmer als ein schlechtes Phantombild. Weil man dann nämlich wirklich irgendwelchen Phantomen hinterherrennt. Also mussten wir uns allein auf die Beschreibung verlassen. Meiner Meinung nach war sie brauchbar, weil Franz W. nichts vorgegeben worden war. Er hatte von sich aus und ganz spontan den äußeren Eindruck beschrieben, den der Mann auf ihn gemacht hatte: Er sah aus wie Dschingis Khan. Diese spontanen, aus dem Gefühl und dem Eindruck heraus geborenen Beschreibungen sind das Beste, was einem als Ermittler passieren kann. Viel besser als die Abfragen nach Alter, Größe, Haarfarbe usw.
Ich hatte als Sachbearbeiter einen Kollegen bestimmt, der in der Nähe des Tatortes wohnte und der, bevor er zur Mordkommission kam, jahrelang Jugendbeamter bei der zuständigen Polizeiinspektion war und deshalb beste Kenntnisse im Umgang mit diversen Cliquen und Jugendgruppen hatte. Besonders zu solchen, die als prekär galten. Und solche gab es genug.
Abend für Abend und teilweise bis spät in die Nacht hinein durchstreifte der Kollege den Park und die Umgebung, sprach mit Jugendlichen, führte Kontrollen durch, observierte und versuchte herauszubekommen, wer als
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