Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
Ermittlungen, in der Regel vorgetragen und vertreten durch den kriminalpolizeilichen Sachbearbeiter, wird immer Grundlage für die juristische Entscheidung sein.
Im Ermittlungsverfahren werden bereits die Weichen gestellt. Das liegt allein schon daran, dass zwischen Tatzeit und Gerichtsverhandlung oft viele Monate vergehen. Woran sich beispielsweise Zeugen, Tatverdächtige oder Beschuldigte kurz nach einem Ereignis noch erinnern können, das haben sie möglicherweise nach Monaten bereits wieder vergessen. Was also vom Ermittler nicht abgefragt oder übersehen wurde, kann dadurch für immer verloren sein.
Robert H. war trotz der Tatsache, dass Sedar in Haft war, nicht bereit, von seiner offensichtlich falschen Aussage abzuweichen. Dass sie sich abgesprochen hatten, war klar ersichtlich. Aber dieser hartnäckige Widerstand war ungewöhnlich und widersprach allen Erfahrungswerten. Natürlich versuchten wir den Grund herauszufinden und wir fanden ihn auch: Angst. Robert H. hatte
genau wie alle anderen panische Angst vor dem »Monster«. Und so gab er Sedar M. das Alibi, das dieser brauchte, indem er schlicht und einfach behauptete, er habe ihn bis nach Hause begleitet in dieser Nacht und sei sogar noch von etwa 23.00 Uhr bis circa um 23.30 Uhr mit in der Wohnung gewesen. Erst als sich Sedar dann um diese Zeit ins Bett gelegt habe, sei er heimgegangen zu seiner Mutter, bei der er wohne. Etwa eine halbe Stunde Gehzeit entfernt. An ihrem üblichen Treffpunkt auf dem Tischtennisplatz am Ostpark bzw. in der Nähe des Tatortes seien sie in dieser Nacht definitiv nicht gewesen.
Zumindest räumte Robert H. im zweiten Anlauf ein, dass Sedar an diesem Tag »krass drauf war«. Es war ihm auch nichts anderes übrig geblieben, denn schließlich gab es noch weitere vier Jugendliche, die sich an diesem Abend mit Sedar in der Wohnung aufgehalten hatten. Die Wohnung lag unweit des Freibades im Tatortviertel. Die Aussagen deckten sich bis ins Detail, sodass am Wahrheitsgehalt keine Zweifel bestanden. Sedar sei wegen des Vaters seiner Freundin »mega-aggressiv« gewesen an diesem Abend. Ständig habe er mit seinem Butterfly-Messer herumgefuchtelt und gesagt, er würde es gerne jemandem so reinrammen, dass die Gedärme herausquellten. Er habe nur noch vom »Aufschlitzen« gesprochen, habe dann wieder das Messer angesehen, als wäre es sakrosankt, und habe immer wieder gesagt: »Das geht rein wie Butter, das geht rein wie Butter.« Sie hätten zeitweise richtig Angst vor ihm gehabt. Mit der Faust und dem Messer darin habe er immer wieder gegen die Wand gedroschen und dabei geschrien, dass er jemanden abstechen will, am liebsten diese Drecksau. Damit sei der Vater seiner Freundin gemeint gewesen, weil der ihn so
gedemütigt habe. Noch nie hätte das jemand gewagt, habe er gezischt, und dann habe er Gras geraucht und sei so um 22.00 Uhr mit Robert gegangen. Wohin, wussten die vier Jugendlichen angeblich nicht.
Nach diesen Aussagen, die schlüssig und nachvollziehbar waren, zeichnete sich ab, dass Dr. Manfred W. anstelle des Vaters von Nina sterben musste. Er war ein sogenanntes Ersatzopfer und tatsächlich nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Dass es jeden anderen, der zu dieser Zeit dort vorbeigekommen wäre, genauso getroffen hätte, war eindeutig. Sedar wollte töten in dieser Nacht. Egal wen. Er hielt sich zumindest in der Nähe der Unterführung auf, in der das Verbrechen geschah. Und er war in mörderischer Stimmung.
Einziger Alibizeuge war also Robert H. Der junge Mann, der eigentlich gar nicht zu Sedar M. passte. Er war viel weicher, sensibler und im Grunde genommen kein schlechter Mensch. Er gehörte auch nicht zu denjenigen, die zuschlugen. Gewaltanwendung war nicht sein Ding. Nicht, weil er körperlich zu schwach gewesen wäre. Im Gegenteil. Er war groß, schlank und kräftig. Aber er war gutmütig und weich und scheute körperliche Auseinandersetzungen. Deshalb wurde er auch oft abgelinkt in der Szene. Das bedeutete, dass ihm hin und wieder sein mühsam erworbener Stoff von anderen Junkies abgenommen wurde, indem sie ihn oft erst verprügelten, bevor er dann den Stoff herausrücken musste. Möglicherweise war das auch der Grund, warum er sich Sedar angeschlossen hatte. In seiner Begleitung wagte es jedenfalls niemand, ihn anzupöbeln.
Robert H. lebte bei seiner ledigen Mutter, zu der er ein inniges Verhältnis hatte. Den Vater kannte er nicht, Geschwister
hatte er keine. Seine Mutter liebte ihn und er liebte seine Mutter.
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