Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
bereits ein Jahr später in die Türkei abgeschoben. Nicht einmal die Staatsanwaltschaft war darüber informiert. Man wollte ihn schlicht und einfach schleunigst loswerden, weil er nicht beherrschbar war. In den Jugendstrafanstalten fürchtete man ihn genauso wie im Erwachsenenvollzug. Er sei eine »tickende Zeitbombe«, sagten alle Justizvollzugsbeamten aus, die wir befragten. Schließlich machte er auch vor Aufsichtsbeamten nicht Halt. Als Sedar zum Beispiel an der Essensausgabe dem Koch die Faust ins
Gesicht schlug, weil der ihm angeblich zum wiederholten Male ein zu kleines Schnitzel gegeben hatte, wollte und musste der Aufsichtsbeamte natürlich dazwischengehen. Mit der Folge, dass er nach einigen gezielten Faustschlägen blutend am Boden landete und noch einige Fußtritte kassierte, bevor ein Großaufgebot an Beamten den Tobenden bändigen konnte. In Bayerns Justizvollzugsanstalten atmete man auf, als er weg war.
Sedar war also in die Türkei abgeschoben worden. Er kam zu Verwandten in der Nähe von Izmir. Als wir über Umwegen davon erfuhren, ärgerten wir uns natürlich. Das war’s dann, dachten wir. Als Türke wird er von der Türkei nicht ausgeliefert, genauso wenig wie Deutsche an einen ausländischen Staat ausgeliefert werden. Wogegen ja grundsätzlich nichts einzuwenden ist. Aber damit würde unser Tatverdächtiger, sollten wir ihn doch noch überführen können, nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Außer man würde ihm den Prozess in der Türkei machen, was zwar theoretisch möglich wäre, aber praktisch mit wenig Hoffnung auf Erfolg verbunden ist.
Mit der Abschiebung wich die Angst vor Sedar. Nicht sofort, aber nach und nach. Die Front bröckelte sozusagen. Über die Abschiebung des Messerstechers war in den Medien ausgiebig berichtet worden, wobei auch großes Unverständnis darüber zum Ausdruck kam, warum der Gewalttäter nur einen so kurzen Teil seiner wohlverdienten Strafe habe absitzen müssen. Die in den Medien thematisierte Abschiebung hatte aber auch ihr Gutes. Sie wühlte nämlich wieder einmal das schlechte Gewissen auf, das in Robert H. seit jener Nacht nagte und das ihm mehr zusetzte als die Drogen, die er konsumierte.
Auf einer Party in der Wohnung eines Bekannten lernte Robert H. eine junge Frau kennen, die so hieß wie er, nämlich Roberta. Beide fanden sich auf Anhieb sympathisch, und so nahm sie ihn an diesem Abend mit in ihr kleines Appartement. Dort landeten sie in deren Bett. Robert H. war hinterher fast so etwas wie glücklich, und weil Roberta so lieb zu ihm war, erzählte er ihr in allen Einzelheiten, was ihn bedrückte. Und Roberta hörte ihm schweigend zu. Am nächsten Morgen sprach sie ihn darauf an, und plötzlich behauptete er, nur Blödsinn geredet zu haben. Aber Roberta wusste, dass er die Wahrheit erzählt hatte. Ihrer Bitte, zur Polizei zu gehen, wollte er auf keinen Fall nachkommen. Deshalb stand er auf und verließ die Wohnung. Und er konnte nur hoffen, dass sie schwieg. Was Roberta nicht tat, weil sie sich als Mitwisserin fühlte, die sie jetzt auch war. Deshalb ging sie zur Polizei.
Es brauchte einige Anläufe, bis Robert H. so weit war. Das Geständnis gegenüber seiner Freundin Roberta stellte er nicht in Abrede, behauptete jedoch, sie habe ihn falsch verstanden. Dann gab er seinen Widerstand doch noch auf. Eine Protokollführerin der Mordkommission, im gleichen Alter wie seine Mutter, war die Erste, der er in einer Vernehmungspause weinend gestand, bei der Tat dabei gewesen zu sein. Zwei Stunden lang hatten ihn die beiden Beamten vorher bearbeitet und versucht, ihm die Angst vor Sedar zu nehmen. Er kämpfte innerlich mit sich. Besonders, als ihm die Lage der Witwe und der Kinder vor Augen geführt wurde. Diesmal war sein Mitgefühl stärker als die Angst und dieser hirnrissige Ehrenkodex, wonach man einen Kumpel niemals an die Bullen verrät. Als die beiden Vernehmer das Zimmer verlassen
hatten, bemerkte die erfahrene Protokollführerin, wie gierig er auf ihre Zigarettenschachtel schaute, die neben dem Computerbildschirm lag. Das war der Anknüpfungspunkt für ein Gespräch, wie es eine Mutter mit ihrem Sohn führt, den schwere Sorgen plagen. Sie gab ihm eine Zigarette, gab ihm Feuer, schaute ihn an und sagte nur, dass sie ihm zuhören würde, wenn er das wolle. Robert H. nahm die Hand der Kollegin, weinte kurz - und dann redete er. Endlich.
Eigentlich hatte Robert H. die Wahrheit gesagt. Zumindest bis zu dem Punkt, wo sie in jener Nacht die
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