Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
wie man es von normalen Beschuldigten gewöhnt ist. Warum das so ist, wurde mir im Verlaufe dieser Vernehmung immer bewusster: Es gab für ihn keinen Grund, irgendetwas beschönigen oder rechtfertigen zu müssen, weil er sich nicht verantwortlich fühlte für das, was er getan hat. So einfach war das. Es war vielmehr eine Art Anklage gegen sein Umfeld und die gesamte Umwelt, die ihn gezwungen hatte, so zu handeln, wie er gehandelt hat. Die anderen und die Umstände waren schuld. Nicht er. Und so wie ich ihn verstand, schien er sich auch um sein Recht auf freie sexuelle Betätigung betrogen gefühlt zu haben. Denn ihm stünde genau wie allen anderen Männern der Geschlechtsverkehr mit einer Frau zu. Und notfalls müsse er sich dieses Recht mit Gewalt nehmen.
Alexander W. bestand darauf, selbst diktieren zu dürfen. Bis ins kleinste Detail schilderte er sein bisheriges Leben, beginnend bei der Kindheit bis hin zum heutigen Tage. Schwerpunkt war in allen Phasen seine sexuelle Entwicklung. Alles in seinem Leben schien sich nur um Sex gedreht zu haben und noch immer zu drehen, obwohl er nie Sex mit einem anderen Menschen hatte. Dabei hatte er keinerlei Hemmungen, auch unappetitliche
Einzelheiten zu schildern. Wenn ich zwischendurch einmal meinte, die ein oder andere Phase könnte man etwas kürzer fassen, belehrte er mich sofort dahingehend, dass man die Gesamtzusammenhänge nur verstehen könne, wenn man nichts auslasse. Es sei sein Recht, seine Sicht der Dinge darzulegen, das hätte ich selbst gesagt. Außerdem erachte er es als wichtig, den Ärzten, die ihn künftig behandeln sollten, auf diese Weise Anhaltspunkte für eine Therapie vorzugeben.
Aber die Nacht sollte außer seines langwierigen Diktates noch weitere Schwierigkeiten bringen. Wenn er beispielsweise irgendwelche lauten Geräusche wahrnahm, musste mein Kollege loslaufen und die Quelle der Störung suchen. Nachts um 23.00 Uhr. In einem Fall war es der Hausmeister, der irgendwo mit einem Schlagbohrer arbeitete und gezwungen werden musste, unverzüglich damit aufzuhören. Ein anderes Mal waren Betrunkene zu hören, die aus dem im Erdgeschoss befindlichen türkischen Imbiss kamen und im Treppenhaus herumgrölten. Es war nicht einfach, für Ruhe zu sorgen. Andernfalls aber hätte Alexander W. kein Wort mehr gesagt bzw. diktiert. Dann kam allerdings noch ein weiteres Problem hinzu. Er hatte keine Tabletten mehr bei sich und forderte, ich solle ihm sofort Lexotanil besorgen. Ohne diese könne er sich nicht mehr konzentrieren und müsse die Vernehmung abbrechen. Also rief ich das Institut für Rechtsmedizin an und erkundigte mich über die Wirkungsweise und vor allem darüber, ob die Einnahme dieser Tabletten die freie Willensentscheidung beeinträchtigen könnte. Das war nicht der Fall. Wie mir der Arzt erklärte, wäre die Einnahme dieser Tabletten auch in größeren Mengen der geistigen Leistungskraft nicht abträglich
und sie sei auch nicht lebensbedrohlich, sie würden lediglich müde machen. Aber verschreiben oder besorgen könne er mir dieses Medikament natürlich nicht. Was also tun?
Ich erklärte Alexander W., ich würde jetzt in die Haftanstalt hinuntergehen und vom dortigen Sanitäter ein Beruhigungsmittel besorgen, wie es nur die Polizei habe und wie es auf dem freien Markt gar nicht zu bekommen sei. Das glaubte er mir, war er doch auch in gewisser Weise ziemlich naiv und hielt mich zwischenzeitlich für den ehrlichsten und aufrichtigsten Menschen, der ihm je begegnet war. Daraufhin begab ich mich in unsere Kaffeeküche und entnahm aus einem Spender ein Dutzend Süßstofftabletten, die ich in ein Tütchen legte, das ich aus unserem Materialschrank entnommen hatte und welches zur Sicherung von kleineren Beweismitteln vorgesehen war. Auf dem Schriftfeld an der Außenseite schrieb ich mit Kugelschreiber »Polamitonil«, wobei es sich um eine reine Fantasiebezeichnung handelte. Die Tabletten brachte ich ihm und erklärte bedeutungsvoll, mehr als eine pro Stunde dürfte er keinesfalls einnehmen. Daran versprach er sich zu halten. Er nahm die erste und schluckte sie mit Wasser hinunter. Gott sei Dank, denn so bemerkte er nicht den süßen Geschmack. Der Plan funktionierte. Nach 15 Minuten meinte er, die Tabletten seien wirklich gut, er fühle sich jetzt ruhiger. Dass ihm dabei der Schaum aus dem Mund quoll, hatte er als unerfreuliche, aber unschädliche Nebenwirkung hingenommen. Er müsse eben viel trinken, riet ich ihm, wobei ich innerlich natürlich
Weitere Kostenlose Bücher