Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
angemeldet. Das würden die Studenten nur machen, wenn sie anderntags im selben Programm weiterarbeiten wollten. Außerdem habe Thomas als Hochbegabter ein Stipendium an der Universität in Frankfurt in Aussicht gehabt, das er unbedingt antreten wollte. Nie und nimmer würde er diese einmalige Chance verstreichen lassen. Morgen schon müsste er dort anfangen. Aber seit vergangenem Dienstag habe es weder von ihm noch von seiner Freundin das geringste Lebenszeichen gegeben. Es müsse etwas passiert sein, eine andere Erklärung gäbe es nicht.
Die Argumente leuchteten ein. Der Wachhabende entschied schließlich, dass eine Vermisstenanzeige entgegenzunehmen sei. Lieber einmal unnötigerweise als zu spät, meinte er. Dass es bereits zu spät war, konnte er freilich nicht ahnen.
Die Vermisstenanzeige kam wie üblich am Tag danach bei der Kriminalpolizei in den Einlauf. Zugeteilt wurde sie Kriminalhauptkommissar Manfred S., der noch ein
Jahr Dienst bis zur Pensionierung vor sich hatte. Zwanzig Jahre hatte er bei der Mordkommission gearbeitet, seit zwei Jahren schob er bei der Vermisstenstelle eine zwar ruhigere Kugel, dafür aber auch eine ziemlich riskante. Denn viele Mordfälle beginnen mit der Vermissung der Opfer. Und wehe dem Vermisstensachbearbeiter, der die Lage falsch beurteilt oder etwas übersieht.
Diese Vermisstensache war deshalb auffällig, weil bei Abwägung aller Erkenntnisse keinerlei Anhaltspunkte dafür zu finden waren, warum die beiden ihren jeweiligen Lebenskreis so plötzlich und vor allem so heimlich hätten verlassen sollen. Deshalb telefonierte der Kollege sogleich mit den Eltern von Elisabeth S. und Thomas W., um sich die Einzelheiten noch einmal selbst erklären zu lassen und seine Erkenntnisse zu vertiefen. Die Gespräche verstärkten seinen Verdacht, dass diese beiden jungen Menschen nicht freiwillig so völlig spurlos verschwunden sein dürften. Er gelangte zur Überzeugung, dass »etwas passiert sein musste«, wie man es formuliert, wenn man noch nicht weiß, was das sein könnte. Eine Entführung? Eher nicht. Keine Anhaltspunkte, keine Lösegeldforderung bisher, keine reichen Leute. Gemeinsamer Suizid? Darauf deutete noch weniger hin.
Blieb also nur ein Verbrechen. Aber wer ist der Täter, wer das Opfer? War einer von beiden Täter, einer Opfer? Oder beide Opfer? Aber wie, wo und warum? Welches Motiv könnte zugrunde liegen? Und wo war die berühmte Zuspitzung der Ereignisse im zeitnahen Vorfeld der Tat? Gemeint sind jene besonderen Vorkommnisse, die man auch als Auslöser bezeichnen könnte und die der Kriminaler zu erfragen versucht mit Sätzen, wie man sie aus jedem Krimi kennt: »Gab es in letzter Zeit irgendwelche
Besonderheiten oder Auffälligkeiten?« oder »Hatte sie oder er mit irgendjemandem Streit?« oder die allerberühmteste Frage: »Gibt es Feinde?«
Kollege Manfred S. fuhr zur Wohnung von Elisabeth S., wo er mit deren bester Freundin verabredet war. Die junge Frau hatte einen Schlüssel zur Wohnung von Elisabeth, so wie diese einen zu ihrer Wohnung hatte. Die massive Eingangstür zu Elisabeths Wohnung sei nicht nur ins Schloss gezogen, sie sei zweimal versperrt gewesen, als sie mit Elisabeths Eltern Nachschau gehalten hatte, war sich die Zeugin sicher und lieferte damit ein erstes, wichtiges Detail. Das bedeutete nämlich, dass die Person, die zuletzt in der Wohnung war, einen Schlüssel besessen haben muss. Zumal auch keinerlei Spuren vorhanden waren, die auf ein gewaltsames oder unberechtigtes Eindringen hingewiesen hätten. Einbruch war also auszuschließen. Aber welcher Fremdtäter sperrt schon zweimal ab, wenn er den Tatort verlässt? Oder war die Wohnung kein Tatort? Und wurden die fehlenden Gegenstände vielleicht gar nicht gestohlen?
Die Räume selbst waren sehr geschmackvoll eingerichtet. Eine moderne, helle Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung im relativ neu errichteten Wohnviertel im nördlichen Schwabing. Ohne Auffälligkeiten. Keine Beschädigungen, keine Kampfspuren, kein Blut - nichts, was einen Ermittlungsansatz hätte liefern können. Außer der Tatsache, dass die vielen Pflanzen zwischenzeitlich bereits die Blätter hängen ließen. Sie müssen schon seit Tagen nicht mehr gegossen worden sein. Das allerdings war absolut ungewöhnlich. Denn nie hatte sie vergessen, ihre Freundin zu informieren, wenn sie mehr als zwei Tage verreiste. Ausschließlich der Pflanzen wegen, die ihr »Heiligtum«
waren. Aber Elisabeth hatte am vergangenen Dienstag, als sie sich
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