Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
zuletzt gesehen hätten, kein Wort davon erzählt, dass sie verreisen wollte, berichtete die Freundin. Es habe auch keinerlei Auffälligkeiten in ihrem Verhalten gegeben. Sie sei wie immer gewesen. Voller Energie, Lebensfreude und Fröhlichkeit.
S. sah sich um. Tatsächlich konnte man noch erkennen, wo der Videorekorder gestanden hatte, der nun verschwunden war. Die Konturen des Gerätes waren auf der ansonsten mit einer ganz feinen Staubschicht überzogenen Konsole noch gut zu erkennen. Offensichtlich hatte es die Wohnungsinhaberin mit dem Staubwischen nicht so genau genommen, dachte sich der sehr akribisch arbeitende Manfred S. Aus der Wohnung fehlten außer dem Videorekorder ein Fotoapparat und ein CD-Player, alles Geräte, die Elisabeth von ihrem Freund Thomas geschenkt bekommen hatte, wie die Freundin wusste. Das rückte ihn zweifelsohne wieder etwas in den Fokus des Interesses. Hatte Thomas diese Gegenstände angesichts einer bevorstehenden Trennung zurückgefordert? Oder hatte Elisabeth ihm seine Geschenke zurückgegeben, weil sie nichts behalten wollte, was sie an ihn erinnert hätte? Gab es Streit deswegen? Oder war er bei ihr, hat die Geschenke zurückgefordert, und dabei ist ein Streit eskaliert? Oder hat sie die Sachen zu ihm gebracht? Fragen über Fragen.
Wie gut, dass die meisten Frauen eine gute Freundin haben, der sie Dinge anvertrauen, die sie nicht einmal ihrer Mutter und keinesfalls dem (Ehe-)Partner sagen würden. Für Ermittler sind Freundinnen meist ein sprudelnder Quell wertvoller Informationen. Und so erfuhr Manfred S. auch etwas über das Innenleben der Beziehung
zwischen Elisabeth und ihrem Freund Thomas. Dieser sei ein hochbegabter, feinsinniger, sehr gut erzogener und zuvorkommender junger Mann mit besten Manieren. Er möge Elisabeth sehr, wusste sie zu berichten. Ob es aber die tiefe Liebe sei, vermöge sie nicht zu beurteilen. Er habe sein kleines Appartement behalten, weil er viel lernen und studieren müsse und nicht wolle, dass Elisabeth deswegen in ihrer Lebensgestaltung eingeschränkt würde. Und so führten die beiden eine ziemlich offene, auf Vernunft und gegenseitigem Verständnis beruhende Beziehung, deren Ende allerdings absehbar war. Thomas wollte nämlich nach Frankfurt gehen und sich dort eine Existenz aufbauen. Das hätte Trennung und Ende der Beziehung zu Elisabeth bedeutet, die um nichts in der Welt München verlassen und damit ihren Job aufgegeben hätte. War diese bevorstehende Trennung die »Besonderheit im Vorfeld der Tat«? Eher nicht, wenn man den Angaben der Freundin und übrigens auch denen der Eltern folgte. Diese Veränderungen hätten schon seit Längerem im Raum gestanden, und Elisabeth habe sich auch schon emotional damit abgefunden. An eine gemeinsame Zukunft mit dem doch um einige Jahre jüngeren Thomas habe sie ohnehin nie so richtig geglaubt.
Damit aber noch nicht genug. Es sollte noch komplizierter werden. Elisabeth soll nämlich ca. drei oder vier Wochen vor ihrem Verschwinden, also entweder Ende Juni oder Anfang Juli, eine Schenkung von einer Tante erhalten haben. Diese hätte ihr 140 000 Euro vermacht, die ihr in bar übergeben worden seien. Nicht einmal ihre Eltern hätten davon gewusst. Sie hätte dieser Tante jedenfalls versprechen müssen, niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen. Das Geld habe Elisabeth
zunächst zu Hause aufbewahrt, habe es aber später zu einer Bank bringen wollen.
Im Beisein der Freundin begann der Kollege, einige Schubladen und Schranktüren zu öffnen, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Die Kleidung der Vermissten hing fein säuberlich in den Schränken, und es sah nicht so aus, als könne viel davon fehlen. Im Badezimmer waren sämtliche Kosmetika und sonstigen Toilettenartikel vorhanden, die eine Frau wohl mitnehmen würde, wenn sie verreist. Eine gründliche Durchsuchung würde natürlich noch folgen müssen. Und während sich S. weiter mit der Freundin unterhielt, öffnete er eine Schublade der Kommode, auf welcher der Videorekorder gestanden hatte. Sein Blick fiel auf einige Polaroidfotos, die sofort seine Aufmerksamkeit erregten. Die Bilder waren hier in diesem Wohnzimmer gemacht worden, wie man am Teppich erkennen konnte. Interessant war aber, was auf diesem ausgebreitet worden war: Es waren Geldscheine, die fein säuberlich über den gesamten Teppich aufgereiht lagen, wie eine Gesamtaufnahme zeigte. Auf zwei Nahaufnahmen konnte man einige Scheine so deutlich sehen, dass man
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