Abgründe
Millionen von Entschuldigungen, und die hast du bestimmt alle drauf. Du vermeidest es, an all die Jungs zu denken, denen es schlechter geht als dir, denen es richtig dreckig geht, die aber keine Lust haben, sich so wie du selbst zu bemitleiden. Die haben aber etwas, was ihnen dabei hilft, sich ihrer Situation zu stellen und ein anständiges Leben zu führen, begreifst du das? Bei denen gibt’s noch so was wie eine Spur von Intelligenz, die sind nicht so völlig leer im Kopf wie du.«
Der Junge hatte anscheinend völlig abgeschaltet und blickte nur den Korridor entlang, in der Hoffnung, dass das Verhör endlich beginnen und er wieder aus der Haft entlassen würde, weil der Fall aufgeklärt war.
Sigurður Óli stand auf. »Ich wollte bloß sichergehen, dass du einmal von jemandem die Wahrheit hörst, dersich ständig mit Typen von deiner Sorte befassen muss. Und wäre es auch nur dieses eine Mal.«
Sigurður Óli ging zu seinem Büro, und der Junge verfolgte ihn mit seinen Blicken.
»Arschloch«, flüsterte er und starrte wieder auf den Boden.
Sigurður Óli rief Patrekur an. Der Überfall auf Lína war das Hauptthema der Spätnachrichten im Fernsehen und auf den Webseiten der Internetmedien gewesen. Patrekur hatte zwar die Nachrichten gesehen, aber nicht gewusst, um wen es ging. Sigurður Óli musste es ihm drei Mal sagen.
»Sie war das?«
»Ja, es war Lína«, sagte Sigurður Óli.
»Und was ist, wurde sie umgebracht?«
»Sie lebt noch, aber niemand weiß, ob sie es schaffen wird. Ich habe dich und Hermann nicht erwähnt, genauso wenig wie Súsanna und ihre Schwester, aber ich weiß nicht, wie lange ich dieses Spiel noch weiterspielen kann. Ich war beim Haus, als der Überfall passierte, ich wollte in eurem Namen mit dieser Frau sprechen, und ich musste natürlich erklären, wieso ich am Tatort war. Ich stecke mit in der Scheiße, mein lieber Patrekur.«
Der Freund am anderen Ende der Leitung blieb eine Weile stumm.
»Ich hätte dich da nicht mit hineinziehen dürfen«, sagte er schließlich. »Ich war davon ausgegangen, dass du vielleicht etwas ausrichten könntest. Mann, ich weiß wirklich nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«
»Was für ein Mensch ist dieser Hermann?«
»Was für ein Mensch?«
»Hat er Verbindungen zu Geldeintreibern, würde er Lína und Ebbi so einen Kerl auf den Hals hetzen?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Patrekur nachdenklich. »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Soweit ich weiß, kennt er keine Geldeintreiber.«
»Ich weiß, dass du keinen solchen Blödsinn machen würdest.«
»Ich?«
»Oder ihr beide zusammen.«
»Ich hab nur euch beide zusammengebracht, mehr nicht. Das musst du mir glauben. Wahrscheinlich ist es am besten, wenn du mich ganz außen vor lässt und dich einfach direkt an Hermann wendest, wenn du etwas mit ihm zu besprechen hast. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich hab nichts mit dieser Sache zu tun.«
»Gibt es einen Grund, Hermann zu schonen?«
»Mach einfach das, was du tun musst. Ich halte mich da völlig raus.«
»Gut«, sagte Sigurður Óli. »Ich möchte nur wissen, ob du mehr über die Sache weißt als das, was Hermann uns gesagt hat? Weißt du mehr als ich?«
»Nein, wirklich nicht. Ich hatte bloß die Idee, dass wir uns an dich wenden könnten. Ich bin nur ein Mittelsmann. Hat der Kerl, der Lína überfallen hat, Schulden eingetrieben?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Sigurður Óli, der entschlossen war, so wenig Informationen wie möglich weiterzugeben. »Weißt du eigentlich, worum es den beiden ging? Spannendes Sexleben? Mit unbekannten Partnern? Worum ging es ihnen?«
»Ich weiß es nicht. Súsanna und ich haben vor zwei Jahren davon erfahren, da hat ihre Schwester etwas inder Art angedeutet. Das ist wohl eine Art Hobby von den beiden, ich kenne mich damit nicht aus und habe kein Verständnis dafür. Ich habe nie mit ihnen darüber geredet. Das geht mich nichts an.«
»Und Súsanna?«
»Die ist natürlich schockiert.«
»Wie haben Lína und Ebbi Verbindung mit Hermann aufgenommen, als sie ihnen mit den Aufnahmen drohten?«
»Ich glaube, dass Lína ihn angerufen hat, aber genau weiß ich es nicht.«
»Wenn wir Línas und Ebbis Telefongespräche überprüfen sollten, könnte es also gut sein, dass Hermanns Name auftaucht?«
»Wahrscheinlich.«
»In Ordnung. Ich melde mich.«
Bevor Sigurður Óli endgültig Feierabend machte, fuhr er noch kurz zur Intensivstation im Fossvogur-Krankenhaus. Vor der Tür zu Línas
Weitere Kostenlose Bücher