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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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Krankenzimmer saß ein Polizist. Eltern und Bruder warteten im Aufenthaltsraum für die nächsten Angehörigen auf Nachrichten. Von Ebbi hatten sie noch nichts gehört, er hatte keine Verbindung zu ihnen aufgenommen. Beim wachhabenden Arzt erfuhr Sigurður Óli, dass Lína noch nicht wieder zu Bewusstsein gelangt war. Ihr Zustand sei äußerst kritisch. Sie sei von zwei schweren Hieben am Kopf getroffen worden, von denen einer die Schädeldecke zertrümmert und einen Bluterguss im Gehirn hervorgerufen habe. Darüber hinaus seien nur am rechten Arm Verletzungen festgestellt worden, die darauf hindeuteten, dass sie den Arm zur Abwehr hochgehalten habe.
    Die Suche nach dem Täter war bislang erfolglos geblieben, man hatte ein großes Gelände durchkämmt, von der Klinik bis zum Sund-Hafen und zu der Bucht, in die die beiden Arme der Elliðaá mündeten. Der Mann war spurlos verschwunden. Im Haus von Lína hatte er keinerlei Spuren hinterlassen, die der Polizei bei seiner Identifizierung helfen konnten.
    Sigurður Óli sah sich noch eine Weile ein Baseballspiel an, bevor er ins Bett ging. Er dachte an die Aufnahmen, die Sigurlína und Ebeneser bei sich aufbewahrten und hinter denen der Täter wahrscheinlich hergewesen war. Falls das so war, hatte Lína sie anscheinend nicht herausgerückt, sonst wäre sie nicht so zugerichtet worden. Die Aufnahmen mussten also immer noch an ihrem Platz sein, entweder bei den beiden zu Hause oder an einem anderen sicheren Ort, den nur Ebbi kannte.
    Kurz vor dem Einschlafen fiel Sigurður Óli noch einmal der Mann ein, der im Dezernat nach ihm gefragt hatte. Er war um die Abendessenszeit noch einmal aufgetaucht und dem wachhabenden Beamten bekannt vorgekommen, hatte sich aber geweigert, seinen Namen und sein Anliegen zu nennen. Der wachhabende Beamte glaubte sich erinnern zu können, dass er Andrés hieße und sich lange als Penner in der Stadt herumgetrieben hatte; dem Strafregister war zu entnehmen, dass er wegen Diebstählen und kleineren Gewaltdelikten eingesessen hatte.

Acht
    Er hatte das Ganze nicht sonderlich gut vorbereitet, eigentlich wusste er kaum, wie er vorgehen sollte, aber er hatte zumindest versucht, den richtigen Zeitpunkt für den Angriff zu wählen. Als er ihn für gekommen hielt, wusste er zwar so in etwa, was er wollte, hatte aber keine Vorstellung, wie die Sache zu bewerkstelligen war. Ihn hatte nur der ohnmächtige Hass, den er so lange mit sich herumgetragen hatte, vorwärtsgetrieben.
    Er wusste, dass sich die Polizei für den Abschaum interessiert hatte. Er selber hatte im vergangenen Winter den Beamten gegenüber einige Andeutungen gemacht, aber sie hatten sie aus irgendwelchen Gründen nicht weiterverfolgt. Und jetzt hatten sich ihre Wege aus purem Zufall wieder gekreuzt. Er war nicht auf der Suche nach dem Scheusal gewesen, sondern ihm völlig unerwartet und zufällig über den Weg gelaufen. Es war Jahrzehnte her, seit dieser Unmensch aus seinem Leben verschwunden war, und dann traf er ihn auf einmal in seinem eigenen Stadtviertel wieder. In seinem eigenen Viertel! Nach all diesen Jahren war er sozusagen nebenan eingezogen!
    Die Gefühle, die ihn übermannten, als ihm bewusst wurde, dass es sich um denselben Mann handelte, vermochte er kaum zu beschreiben. Er war zunächst fassungslos gewesen, denn er hatte im Grunde genommen gar nicht mehr damit gerechnet, dass er ihn jemals wiedersehen würde. Und dann war die alte Angst in ihm wieder hochgestiegen, denn er fürchtete sich immer noch vor diesem Unmenschen. Und schließlich war Wut in ihm hochgekrochen, denn auch wenn viele, viele Jahre vergangen waren, vergessen hatte er nichts. Alles brach wieder über ihn herein, als er den Mann in einiger Entfernung erblickt hatte. Auch wenn der Kerl jetzt alt und krumm war – er stellte immer noch eine Bedrohung für ihn dar, und das alte Entsetzen hatte ihn im Griff.
    Vielleicht hatte es etwas mit diesen alten Ängsten zu tun, dass er von Anfang an darauf achtete, nicht von ihm gesehen zu werden. Er behielt ihn zwar im Auge, aber noch fehlte ihm der Mut zu mehr. Er wusste zunächst auch gar nicht, was er weiter tun sollte. Damals, als sich die Polizei für den Kerl zu interessieren begann und sie in diesem Zusammenhang auch ihn befragten, ließ er sich so wenig wie möglich entlocken, tat geheimnisvoll und erzählte widersprüchliche Geschichten, weil sein Verhältnis zur Polizei keineswegs unbelastet war. Seine Erinnerungen an das, was sich da abgespielt hatte, waren

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