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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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mehr als unvollständig, denn zu diesem Zeitpunkt war er ständig betrunken oder zugedröhnt gewesen. Danach hatte er es aber eine ganze Weile geschafft, trocken und clean zu bleiben. Er wollte sich rächen. Als der feige Hund feststellte, dass die Polizei ihm auf der Spur war, hatte der Kerl sich verkrochen, und zwar in einer Kellerwohnung auf der Grettisgata.
    Selbstmitleid kam für ihn nicht in Frage. Er trug dieVerantwortung für das, was er sich hatte zuschulden kommen lassen. Nicht für das, was andere ihm anzuhängen versuchten, aber für das, was er selber verbrochen hatte. Nein, er würde sich nie bemitleiden, auch wenn es möglicherweise stimmte, dass er wegen der Vorfälle in seiner Vergangenheit nie eine Chance im Leben gehabt hatte. Es hatte bereits mit dem Elternhaus angefangen. Sein versoffener Vater hatte ihn und seine Geschwister aus geringstem Anlass grün und blau geschlagen, nicht selten ohne jeglichen Anlass. Dazu verwendete er einen Ledergürtel, mit dem er auch auf ihre Mutter eingeschlagen hatte.
    Er hatte immer versucht, das aus dem Gedächtnis zu streichen, er wollte nicht an die Jahre denken, bevor sein Zuhause aufgelöst und er aufs Land zu einer fremden Familie geschickt worden war. Dort ging es ihm so gut, wie er selber es zuließ. Er konnte nie richtig fröhlich sein, wusste aber nicht, woran das lag. Vor lauter Angst, die er nicht loswerden konnte, war er ständig verkrampft. Vielleicht hatte er auch einfach nie gewagt, sie abzuschütteln, weil er keine anderen Gefühle kannte und sich nicht sicher war, was an ihre Stelle treten würde.
    Als er eines Nachts wieder in der Grettisgata auf der Lauer gelegen hatte, war ihm in den Sinn gekommen, dass es vielleicht an der Zeit sei, damit aufzuhören, dem Dreckskerl nachzuspionieren, die ganze Nacht auf eine Kellerwohnung zu starren, ohne irgendetwas zu unternehmen. Er war sich ziemlich sicher, dass er es mit diesem Wrack leicht aufnehmen und ihn ohne große Anstrengung in seine Gewalt bringen könnte. Er dachte an die Abenteuerbücher seiner Jugend, an die Geschichten von Kampf und Heldentum, und er erinnerte sich daran, wie wichtig es war, den Gegner zu überraschen. Natürlich konnte er nicht einfach auf der Straße über ihn herfallen. Es musste in seiner Wohnung geschehen. Allerdings konnte er auch schlecht mitten in der Nacht anklopfen, wenn niemand unterwegs war, das würde ihn nur argwöhnisch machen. Der Angriff musste erfolgen, wenn er sich ganz sicher fühlte. Wahrscheinlich am besten in aller Herrgottsfrühe, wenn er sich auf den Weg zur Badeanstalt machte.
    An einem nasskalten Morgen schritt er zur Tat. Ein scharfer Nordwind pfiff durch die Grettisgata, und er war völlig durchgefroren, denn er hatte stundenlang in der Kälte ausgeharrt. Er trug eine abgewetzte Winterjacke und eine Mütze, aber das half nicht viel. Kurz nach Tagesanbruch näherte er sich langsam und vorsichtig dem Haus, und er war nur noch wenige Schritte entfernt, als sich die Kellertür öffnete. Er machte einen Riesensatz, sprang die paar Stufen zum Eingang hinunter und stand dem Abschaum gegenüber, der die Plastiktüte mit seinem Schwimmzeug in der Hand hielt und im Begriff war, die Tür zuzumachen. Ohne zu zögern stieß er den alten Kerl wieder in den kleinen Flur hinter der Eingangstür zurück, die er sofort hinter sich zuschlug. Das Scheusal protestierte lautstark und schlug mit der Plastiktüte nach seinem Kopf. Er griff nach der Tüte und entriss sie ihm. Der alte Kerl geriet in Panik und versuchte, ins Wohnzimmer zu fliehen, aber er war schneller, warf sich auf ihn und brachte ihn zu Fall.
    Es war viel einfacher gewesen, als er es sich vorgestellt hatte, das Schicksal des Scheusals zu besiegeln.

Neun
    Hermann wollte sich auf keinen Fall während der Arbeitszeit mit Sigurður Óli treffen. Er hatte eine leitende Position in einer Firma, die Maschinen und anderen Bedarf im Baugewerbe importierte. Sie verabredeten sich in dem gleichen Café wie tags zuvor, als Patrekur dabei gewesen war. Sigurður Óli hatte zwar Verständnis dafür, dass Hermann vorsichtig sein musste, aber er war nicht gewillt, ihn deswegen mit Samthandschuhen anzufassen. Falls der Mann irgendetwas über diesen Überfall auf Lína wusste, würde er es aus ihm herausbekommen.
    Línas Zustand war immer noch unverändert. Sie lag auf der Intensivstation und war noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen, und die Ärzte befürchteten das Schlimmste. Ebeneser war inzwischen wieder

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