Abgründe
dass er im Urlaub ist und in die Ostfjorde wollte.«
»Ja. Hat er sein Handy nicht mitgenommen? Oder hat er noch eine andere Handynummer?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»Er geht nicht dran. Er hat doch kein anderes Telefon, oder?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Falls er sich bei dir meldet, würdest du ihm sagen, dass ich nach ihm gefragt habe?«
»Natürlich, aber …«
»Was?«
»Ich gehe nicht davon aus, dass er sich bei mir meldet«, sagte Sigurður Óli. »Deswegen …«
»Nein, ich auch nicht«, entgegnete Eva Lind. »Wir …«
»Ja?«
»Wir haben neulich einen Ausflug gemacht, er wollte sich die Seen in der Nähe von Reykjavík ansehen. Er war …«
»Ja?«
»Er war irgendwie deprimiert.«
»Ist er das nicht immer? Deswegen würde ich mir keine Sorgen machen. Ich wüsste nicht, dass ich deinen Vater jemals guter Laune erlebt hätte.«
»Ich weiß.«
Sie schwiegen.
»Würdest du ihm einen Gruß von mir ausrichten?«, fragte Eva Lind.
»Mach ich.«
»Ciao.«
Sigurður Óli legte das Telefon wieder zurück auf den Küchentisch. Anschließend schaltete er den Fernseher aus und ging zu Bett.
Elf
Das alte Vorführgerät war in einem Loch im Boden unten im Besenschrank versteckt gewesen, sodass er eine ganze Weile gebraucht hatte, um es zu finden.
Er war sich sicher gewesen, dass das Scheusal das Gerät nicht weggeworfen hatte. Er wusste, dass er das niemals tun würde, solange er noch in der Lage war, darüber zu bestimmen. Das alte surrende Ding, grau wie Beton, war sogar nach all diesen Jahren noch voll funktionsfähig. Wahrscheinlich verwendete der Kerl es immer noch. Als er das Gerät hochhob und auf den Küchentisch stellte, erinnerte er sich, wie schwer es ihm als Kind vorgekommen war. Das Firmenzeichen des Herstellers war deutlich sichtbar: Bell&Howell. Als Kind hatte er die Aufschrift erst verstanden, als ein Freund ihm erklärte, dass es sich um zwei Namen handele. Der eine hieß Bell und der andere Howell, und die beiden hatten gemeinsam diese Maschine konstruiert, wahrscheinlich irgendwo in Amerika.
Das tiefe Loch, in dem das Gerät gesteckt hatte, war mit einer Holzplatte zugedeckt gewesen. Die hatte er hochgestemmt, den Apparat herausgeholt, die Arme für die Vorführspulen hochgeklappt, das Kabel angeschlossen und auf einen Knopf gedrückt. Der Lichtkegel fiel auf die gegenüberliegende Wand.
Das Vorführgerät war eines der wenigen Dinge, die das Scheusal mit in den Haushalt gebracht hatte, als er bei seiner Mutter Sigurveig einzog. Er selber war damals auf dem Land gewesen und hatte nichts von diesem neuen Mann im Leben seiner Mutter gewusst. Eines Tages kam der Bescheid, dass seine Mutter ihn wieder bei sich haben wollte. Sie lebte inzwischen in einer Sozialwohnung in einem Neubauviertel, hatte angeblich aufgehört zu trinken und einen neuen Mann kennengelernt. Er hörte die Stimme seiner Mutter, die er nie Mama, sondern immer nur Sigurveig nannte. Nach zwei Jahren Trennung war sie eigentlich ein unbekanntes Wesen für ihn. Damals hatte sie ihn zum ersten und einzigen Mal auf dem Land angerufen. Das Gespräch war kurz gewesen. Sie wolle ihren Jüngsten bei sich haben, hatte sie gesagt. Er hatte geantwortet, es ginge ihm gut auf dem Bauernhof. »Ich weiß, mein Liebling«, hörte er sie am anderen Ende der Leitung sagen, »aber jetzt kommst du wieder zu mir. Ich habe das durchsetzen können. Ich habe alles in die Wege geleitet.«
Ein paar Tage später hatte er sich von der Pflegefamilie, Vater, Mutter und zwei Töchtern, verabschieden müssen. Der Bauer fuhr mit ihm zur Landstraße, wo sie auf den Linienbus warteten. Er kam sich vor, als würde er sich vor der Arbeit drücken, denn es war Hochsommer, die Heuernte hatte begonnen, er wurde auf dem Hof gebraucht. Der Bauer und seine Frau hatten ihn oft gelobt, weil er so tüchtig und arbeitswillig war, und sie sagten immer wieder, dass aus ihm noch etwas werden würde. Der Bus tauchte in der Ferne auf, zog eine lange Staubwolke hinter sich her und hielt bald darauf bei ihnen. »Und nun lass es dir gut gehen, vielleicht besuchst du uns ja mal, wenn du kannst«, sagte der Bauer. Er wollte dem Mann die Hand geben, doch der nahm ihn in die Arme und drückte ihm einen Tausendkronenschein in die Hand. Der Bus fuhr ruckend los, und der Bauer verschwand in der Staubwolke.
Er hatte nie zuvor in seinem Leben Geld besessen, und auf dem Weg nach Reykjavík holte er immer wieder den Schein aus der Tasche, um ihn sich anzusehen. Dann
Weitere Kostenlose Bücher