Abgründe
faltete er ihn wieder zusammen, steckte ihn in die Tasche, aber nur, um ihn schon nach kurzer Zeit wieder hervorzuholen und zu bestaunen.
Sigurveig hatte gesagt, sie würde ihn am Busbahnhof abholen. Als er aus dem Bus stieg, war sie jedoch nirgends zu sehen. Es war bereits Abend, und er blieb lange neben seinem kleinen Koffer stehen. Schließlich setzte er sich auf ihn. Alleine würde er nie den Weg zu der Wohnung seiner Mutter finden, er wusste nicht einmal, in was für einem Viertel der Wohnblock war oder wie die Straße hieß. Je weiter der Abend fortschritt, desto unglücklicher wurde er. Er war schon so lange aus Reykjavík weg und kannte niemanden, an den er sich wenden konnte. Der Bauer hatte ihm vor langer Zeit gesagt, dass sein Vater ins Ausland gegangen war. Was aus seinen beiden Geschwistern geworden war, wusste er nicht, sie waren sehr viel älter als er. Andere Angehörige gab es nicht.
Er saß auf dem Koffer und dachte an sein Zuhause der letzten Jahre. Oder vielmehr an den Ort, wo er in den vergangenen Jahren ein Zuhause gefunden hatte. Auf dem Hof kamen sie wohl jetzt gerade aus dem Kuhstall, und die Mädchen tollten umher. Die Hundewurden aus der Küche gescheucht und das Essen aufgetragen, vielleicht gekochte Forelle aus dem See mit zerlassener Butter. Das war sein Lieblingsessen.
»Du bist wohl das arme Würstchen, das ich abholen soll.«
Er blickte hoch. Vor ihm ragte ein Mann auf, den er nie zuvor gesehen hatte.
»Du bist doch Klein-Drési?«, fragte der Mann.
Niemand hatte ihn mehr Drési genannt, seitdem er die Stadt verlassen hatte.
»Ich heiße Andrés«, sagte er.
Der Mann blickte ihn an. »Das passt ja. Deine Mutter lässt dir Grüße ausrichten, glaube ich. Sie ist im Augenblick nicht sonderlich gut in Form.«
Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er wusste nicht, was die Worte des Mannes bedeuteten, was bedeutete ›in Form‹?
»Na, dann nichts wie los«, sagte der Mann. »Vergiss deinen Koffer nicht.«
Der Unbekannte ging zu dem Parkplatz vor dem Busbahnhof. Er sah, wie er um eine Ecke bog. In diesem Moment sprang er auf, griff nach seinem Koffer und rannte hinter ihm her. Was hätte er auch anderes tun sollen. Aber er war auf der Hut. Es schien ihm, als müsse man sich wirklich Mühe geben, um es dem Mann recht zu machen. Da war so ein Unterton in der Stimme gewesen, als er von seiner Mutter sprach, und aus seinem Mund hatte Klein-Drési geradezu verächtlich geklungen. Der Mann hatte ihn nicht einmal begrüßt. Du bist wohl das arme Würstchen, das ich abholen soll , hatte er gesagt. Er hatte bemerkt, dass ihm ein Zeigefinger fehlte, aber ihm wäre nie eingefallen, ihn nach demGrund dafür zu fragen. Und er hatte es sich auch später nie getraut.
Sigurveig schlief, als sie in der Wohnung eintrafen. Der Mann sagte, er müsse noch einmal fort. Er dürfe keinen Krach machen und die Mutter nicht wecken. Deswegen setzte er sich auf einen Stuhl in der Küche und verhielt sich mucksmäuschenstill. Die Wohnung bestand aus einem Schlafzimmer, dessen Tür geschlossen war, einem Wohnzimmer, der Küche und dem Bad. Er sollte wohl auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Er war müde nach der Reise und der Warterei am Busbahnhof und hätte sich gerne auf das Sofa gelegt, aber er traute sich nicht. Er legte die Hände auf den Küchentisch und den Kopf darauf, und nach kurzer Zeit war er eingeschlafen.
Kurz vor dem Einschlafen hatte ein Gegenstand im Wohnzimmer seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er hatte keine Ahnung, was da auf dem Tisch beim Sofa stand, ein kastenförmiges Ding mit einem Griff oben, ein merkwürdiges Objekt aus einer anderen Welt. Auf der Seite befand sich diese unverständliche Aufschrift, Bell&Howell.
Später fand er heraus, dass der neue Mann im Leben seiner Mutter auch eine Filmkamera besaß, die hatte einen anderen Namen, der genauso seltsam klang und ihm nicht weniger Kopfzerbrechen bereitete als die Aufschrift auf dem Vorführgerät. Auch ihr Name brannte sich in sein Gedächtnis ein. Eumig .
Er starrte lange auf das alte Bell&Howell-Vorführgerät und den Lichtkegel auf der gegenüberliegenden Wand. Es hatte ganz den Anschein, als würden sich seinebruchstückhaften Erinnerungen in dem Strahl kristallisieren. Dann schaltete er es wieder aus. Der Abschaum wimmerte wieder, und er drehte sich um.
»Was willst du?«, fragte er.
Das Wrack auf dem Sessel verstummte. Er stank nach Urin, und die Maske vor seinem Gesicht war schweißnass.
»Wo ist die
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