Abgründe
nie in irgendeiner Form zur Seite gestanden, als wir … als wir in Schwierigkeiten waren. Niemals. Sie hat mir das Gefühl gegeben, als ginge sie das nichts an. Als würde sie mir die Schuld daran geben, als wäre ich ein Handicap in deinem Leben, weil ich keine Kinder bekommen kann.«
»Weshalb sagst du das?«
»Weil es wahr ist.«
»Darüber hast du noch nie mit mir geredet.«
»Oh doch, aber du hast mir nie zugehört.«
Der Kellner kam mit einer neuen Flasche Wein, zeigte sie Sigurður Óli, entkorkte sie vor seinen Augen und gab ein wenig Wein in Sigurður Ólis Glas, der ihn kostete und den Wein akzeptierte. Der Kellner füllte ihre Gläser und stellte die Flasche auf den Tisch.
»Du hast nie zuhören wollen, wenn ich dir etwas zu sagen hatte«, wiederholte Bergþóra.
»Das stimmt doch gar nicht.«
Bergþóra blickte ihn an, ihre Augen schwammen in Tränen. Sie nahm die Serviette zur Hand.
»Also gut«, sagte sie und gab sich einen Ruck. »Hören wir auf zu streiten. Es ist nun einmal so gelaufen, und wir können nichts mehr daran ändern.«
Sigurður Óli sah auf seinen Teller. Streitereien ging er am liebsten aus dem Weg. Er konnte sich zwar mit dem größten Vergnügen an irgendwelchen Straftätern auslassen und sie herunterputzen, aber privat war ihm daran gelegen, so lange wie möglich Frieden zu halten. Irgendwann einmal hatte er darüber nachgedacht, ob das vielleicht mit der Rolle zusammenhing, die er bei der Trennung seiner Eltern gespielt hatte. Er wollte unbedingt, dass sich alle vertrugen, hatte aber lernen müssen, dass das nicht möglich war.
»Ich finde, du vergisst oft, dass es auch für mich nicht einfach war«, sagte er. »Du hast dich nie dafür interessiert, was in mir vorging. Alles drehte sich um dich. Du hast auf einer Adoption bestanden und wolltest sie sofort in die Wege leiten, mich hast du nie nach meiner Meinung gefragt. Wir haben schon so oft darüber diskutiert, eigentlich wollte ich heute Abend nicht schon wieder darüber reden.«
»Nein«, sagte Bergþóra, »reden wir also einfach nicht darüber. Ich hatte es auch nicht vor. Lass uns damit aufhören.«
»Ich bin aber erstaunt über das, was du da über meine Mutter gesagt hast«, sagte Sigurður Óli. »Auch wenn ich sehr gut weiß, wie sie sein kann. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich dich ganz zu Anfang unserer Beziehung sogar vor ihr gewarnt.«
»Du hast mir gesagt, ich solle nicht alles ernst nehmen, was sie sagt.«
»Ich hoffe, du hast dich daran gehalten.«
Sie schwiegen eine Weile. Der Wein aus der Toscana war mild und vollmundig. Sie griffen zu ihren Gläsern. Die Musik, die aus den Lautsprechern drang, war italienisch, genau wie das Essen, auf das sie warteten. Das Schweigen zwischen ihnen aber war isländisch.
»Ich möchte nicht adoptieren«, sagte Sigurður Óli.
»Ich weiß«, erwiderte Bergþóra. »Du solltest dir eine andere Frau suchen, mit der du deine eigenen Kinder bekommen kannst.«
»Nein«, sagte Sigurður Óli, »ich glaube, ich wäre kein guter Vater.«
Als er abends wieder bei sich zu Hause war, schaltete er den Fernseher ein, um sich ein Baseballspiel anzusehen. Seine Mannschaft spielte miserabel, was seine Laune nach dem Treffen mit Bergþóra nicht verbesserte. Sein Handy klingelte auf dem Küchentisch. Sigurður Óli kannte die Nummer nicht, und seine erste Reaktion war, es auszuschalten, doch seine Neugier behielt die Oberhand.
»Ja?«, meldete er sich übertrieben schroff. Diese abweisende Haltung hatte er sich schon vor langer Zeit angewöhnt, wenn er nicht wusste, wer der Anrufer war. Es konnten Wohltätigkeitsorganisationen sein. Er hatte im Telefonbuch seinen Namen mit einem roten Kreuz markieren lassen, um von solchen Belästigungen verschont zu bleiben, und diejenigen, die es trotzdembei ihm probierten, bekamen sofort zu hören, was er davon hielt.
»Sigurður?«, fragte eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Wer spricht da?«
»Ist dort Sigurður Óli?«
»Ja!«
»Ich bin Eva.«
»Eva?«
»Eva Lind. Erlendurs Tochter.«
»Ach ja, hallo.«
In seiner Stimme schwang keine Freundlichkeit mit. Sigurður Óli kannte die Tochter seines langjährigen Kollegen Erlendur nur zu gut, er hatte sich nämlich manchmal von Berufs wegen mit ihr abgeben müssen, damals, als Eva Lind zum großen Leidwesen ihres Vaters auf die schiefe Bahn geraten war.
»Hast du etwas von ihm gehört?«, fragte Eva Lind.
»Von deinem Vater? Nein, gar nichts. Ich weiß nur,
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