Abgründe
Kamera?«
Der Mann starrte ihn aus der Todesmaske heraus an.
»Und die Filme? Wo sind die Filme?! Raus mit der Sprache! Ich kann dich umbringen, wann es mir passt. Verstehst du? Jetzt bestimme ich! Ich! Nicht du, du Abschaum. Ich habe jetzt das Sagen.«
Aus der Maske drang weder Husten noch Stöhnen.
»Wie findest du das? Wie findest du das?! Ist das nicht nach all diesen Jahren etwas seltsam, dass ich auf einmal stärker bin als du? Wer ist jetzt das arme Würstchen?«
Der Mann rührte sich nicht.
»Sieh mich an! Sieh mich an, wenn du dich traust. Was siehst du? Siehst du, was aus Klein-Drési geworden ist? Drési ist nicht mehr klein, er ist ganz groß und stark. Vielleicht hast du geglaubt, dass das nie passieren könnte. Dass es nie passieren würde. Hast vielleicht geglaubt, dass Drési immer dasselbe arme kleine Würstchen bliebe?«
Er versetzte dem Wrack eine Ohrfeige.
»Wo ist das Gerät?«, schnaubte er.
Er war entschlossen, die Kamera zu finden und zu zerstören. Und die Filme, die der Unmensch aufgenommen hatte. Er war fest davon überzeugt, dass derKerl immer noch alles aufbewahrte. Er würde nicht lockerlassen, bis er alles gefunden und verbrannt hätte.
Das Wrack antwortete ihm nicht.
»Du denkst wohl, dass ich es nicht finde? Ich werde es finden, und wenn ich dir die ganze Bude einreißen muss. Notfalls breche ich den Fußboden und die Decke auf. Was hältst du davon? Wie gefällt dir Klein-Drési?«
Die Augen hinter der Maske schlossen sich.
»Du hast mir den Tausendkronenschein weggenommen«, flüsterte er. »Ich weiß ganz genau, dass du ihn genommen hast. Du hast behauptet, ich hätte ihn verloren, aber das war eine Lüge. Ich weiß, dass du ihn genommen hast.«
Er hatte angefangen zu schluchzen.
»Dafür sollst du in der Hölle brennen. Dafür und für alles andere, was du getan hast. Du sollst in der heißesten Hölle brennen!«
Zwölf
Zu den ersten Maßnahmen der Polizei nach dem Überfall auf Lína gehörte es, die Kennzeichen der Autos zu überprüfen, die in der Umgebung des Hauses geparkt waren, in der Hoffnung, dass der Täter vielleicht im Auto gekommen war. Das war nicht abwegig, und im Grunde genommen sogar wahrscheinlich. Einen Baseballschläger konnte man wohl kaum in öffentlichen Verkehrsmitteln mit sich herumtragen, ohne dass es auffiel. Eine kurze Überprüfung ergab, dass er auch kein Taxi genommen hatte. Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass er zu Fuß gekommen war, weil er irgendwo in der Nähe wohnte. Oder es hatte ihn jemand zu dem Reihenhaus gefahren und draußen gewartet, sich aber aus dem Staub gemacht, als Sigurður Óli aufgetaucht war. Der konnte sich jedoch an nichts dergleichen erinnern. Und schließlich war es auch noch möglich, dass der Angreifer nicht direkt beim Haus, sondern in einer Nebenstraße geparkt hatte und das Auto dort stehen lassen musste, weil Sigurður Óli ihn überrascht hatte und ihm nachgesetzt war.
Die Polizei hatte einige Dutzend Autokennzeichen registriert, und die meisten Autos waren im Besitz von Anwohnern. Alles ganz normale Menschen, die der arbeitenden Bevölkerung angehörten und nie einer Fliegeetwas zuleide getan hatten. Über Lína und Ebbi wussten sie so gut wie nichts. Diverse Autos waren aber auch auf Leute registriert, die nicht in dem Viertel lebten, sondern in anderen Stadtteilen, einige kamen sogar von außerhalb. Niemand von ihnen hatte einen Eintrag im Polizeiregister.
Sigurður Óli, der zumindest den Laufstil des Täters kannte, übernahm die Vernehmungen von einigen Autobesitzern, deren Wagen an dem Abend in der Nähe gestanden hatten. Línas Zustand war unverändert, und Ebbi wich kaum von ihrer Seite. Nach Meinung der Ärzte war die Lage unverändert kritisch.
Sein Abend mit Bergþóra hatte kein gutes Ende genommen. Sie hatten sich wieder gegenseitig mit Vorwürfen überhäuft, und als es Bergþóra reichte, war sie einfach aufgestanden und gegangen.
Sigurður Óli war zwar in gewisser Weise aus privaten und persönlichen Gründen mit dem Fall in Berührung gekommen, aber er war keineswegs der Ansicht, dass er befangen war und sich deswegen aus der Ermittlung zurückziehen musste. Er hatte sich die Sache durch den Kopf gehen lassen und war zu dem Ergebnis gekommen, dass nichts von dem, was er wusste, mit den Interessen der Ermittlung kollidierte, wie es so schön hieß. Er hatte kein Interesse daran, Hermann und seine Frau in Schutz zu nehmen. Patrekur hatte nichts mit der Sache zu tun.
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