Abgründe
Sigurður Óli hatte nichts unternommen, weswegen er sich nicht an den Ermittlungen beteiligen konnte. Vorübergehend waren ihm wegen seines Gesprächs mit Ebeneser im Krankenhaus, als er ihn wegen der Aufnahmen zur Rede gestellt hatte, Bedenken gekommen, aber sie verflogen rasch. Er kannte Sigurlínaund Ebeneser gar nicht. Es konnte gut sein, dass sie wegen Drogenkonsums oder wegen eines Haus-und Autokaufs hoch verschuldet waren und dass sie Schulden bei Leuten hatten, die sich ihr Geld mit Hilfe von Geldeintreibern zurückholten. Es war bekannt, dass solche miesen Typen nicht nur Drogenschulden einkassierten. Sigurður Óli hielt es für wahrscheinlich, dass Lína und Ebbi einfach ein wenig zu weit gegangen waren in ihrem plumpen Versuch, durch Pornoaufnahmen Geld von Dummköpfen wie Hermann und seiner Frau zu erpressen. Jemand, der mit dem Rücken zur Wand stand, konnte sehr gut auf die Idee kommen, die beiden durch Gewalt oder Androhung von Gewalt zum Schweigen zu bringen. Ob Hermann dahintersteckte, wusste er nicht. Hermann stritt das ab, es würde sich irgendwann zeigen, ob er log.
Sigurður Óli verspürte so etwas wie Gewissensbisse, dass er Finnur nicht über die Aufnahmen und die vermeintliche Erpressung informiert hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann das ans Licht kommen würde. Und wenn das passierte und die Namen von Hermann und seiner Frau ins Spiel kommen würden, musste er eine Erklärung parat haben.
Das alles ging ihm durch den Kopf, als er auf der Suche nach einem Mann namens Hafsteinn eine kleine Fleischwarenfabrik betrat. Hafsteinn war Fleischermeister und bass erstaunt über den Besuch von Sigurður Óli. Er hatte angeblich noch nie in seinem Leben mit der Kripo zu tun gehabt, und aus seiner Sicht war das wohl so etwas wie ein Zertifikat für einen tadellosen Lebenswandel. Hafsteinn ging mit Sigurður Óli in sein Büro, und sie setzten sich zusammen. Der Fleischermeister trug einen weißen Kittel, und auf dem Kopf thronte eine weiße Kappe mit dem Logo der Firma. Der gedrungene Mann mit den roten Bäckchen hatte eine Figur wie ein bierseliger deutscher Oktoberfestbesucher und machte ganz und gar nicht den Eindruck, als würde er mit einem Baseballschläger über wehrlose Frauen herfallen. Und auf gar keinen Fall hätte er es geschafft, mehr als zehn Meter zu rennen. Trotz dieser augenfälligen Tatsache zog Sigurður Óli unbeirrt sein Programm durch. Er ließ sich mit ein paar kurzen Worten über den Grund seines Kommens aus und sagte, er müsse wissen, was Hafsteinn an dem bewussten Abend in dem Stadtteil, in dem der Überfall auf Sigurlína erfolgt war, zu tun gehabt hatte, und ob es jemanden gäbe, der seine Angaben bestätigen könne.
Der Fleischermeister sah Sigurður Óli lange an. »Moment mal, wovon redest du eigentlich? Warum sollte ich dir sagen, weswegen ich dort war?«
»Dein Auto stand eine Straße weiter unten. Du wohnst in Hafnarfjörður. Was hast du in Reykjavík gemacht? Warst du selber mit dem Auto unterwegs?«
Sigurður Ólis Überlegungen liefen darauf hinaus, dass der Mann, auch wenn er selber nicht über Sigurlína hergefallen war, doch vielleicht etwas über den Überfall wissen konnte. Möglicherweise hatte er sogar den Täter dorthin gefahren, war in Panik geraten und hatte das Auto dort zurückgelassen.
»Ja, ich war in dem Auto unterwegs. Ich war dort in einem Privathaus zu Besuch. Geht dich das etwas an?«
»Ja.«
»Wozu willst du das wissen?«
»Wir versuchen, den Täter zu finden.«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich etwas damit zu tun habe?!«
»Warst du an dem Überfall beteiligt?«
»Bist du verrückt?«
Sigurður Óli glaubte zu sehen, dass die roten Bäckchen etwas blasser wurden.
»Kannst du mir jemanden nennen, der deine Aussagen bestätigen kann?«
»Wirst du etwa auch mit meiner Frau reden?«, fragte Hafsteinn zögernd.
»Muss ich das?«, fragte Sigurður Óli.
Der Mann stöhnte. »Das ist nicht notwendig«, sagte er nach längerem Schweigen. »Ich … Ich habe eine Freundin in der Straße. Wenn du eine Bestätigung brauchst, solltest du sie fragen. Ich kann es gar nicht fassen, dass ich mit dir darüber rede.«
»Eine Freundin?«
Der Mann nickte.
»Du meinst also eine Geliebte?«
»Ja.«
»Und du warst bei ihr zu Besuch?«
»Ja.«
»Na schön. Sind dir vielleicht irgendwelche Leute auf der Straße aufgefallen, die etwas mit dem Überfall zu tun gehabt haben könnten?«
»Nein. Sonst noch was?«
»Nein, ich glaube, das
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