Abgründe
wir haben uns ja auch nichts mehr zu verschweigen. Sie hat gesagt, dass du sie nicht gut genug für mich gefunden und ihr die Schuld daran gegeben hättest, dass sie keine Kinder von mir bekommen konnte.«
»Blödsinn!«, erklärte Gagga.
»Wirklich?«, fragte Sigurður Óli.
»Das ist einfach absurd«, antwortete seine Mutter und setzte sich mit dem heißen Teller an den Tisch, rührte aber ihr Essen nicht an. »Das kann sie doch nicht einfach so behaupten. Was soll dieser Blödsinn?«
»Hast du ihr die Schuld an unserer Kinderlosigkeit gegeben?«
»Aber es liegt doch an ihr! Ich brauchte ihr gar nicht die Schuld daran zu geben.«
Sigurður Óli legte die Gabel hin. »Das war also der ganze Beistand, den sie von dir bekommen hat«, sagte er.
»Beistand? Mir hat auch niemand beigestanden, als dein Vater und ich uns scheiden ließen.«
»Du setzt doch sowieso immer deinen Kopf durch. Und was meinst du eigentlich mit beistehen, du warst es ja schließlich, die ihn verlassen hat.«
»Also was ist? Was wird jetzt aus eurer Beziehung?«
Sigurður Óli schob den Teller von sich und blickte sich um. Von der Küche aus blickte man in ein riesiges Wohnzimmer, das Kälte ausstrahlte – weiße Wände, Fußbodenheizung unter schwarzen, funkelnagelneuen Fliesen und ebenso teure wie unpersönliche Trendmöbel. An den Wänden hingen Originale von teuren, aber nicht unbedingt guten Malern.
»Ich weiß nicht«, sagte er, »wahrscheinlich ist sie zu Ende.«
Ebeneser hatte geweint. Er war immer noch im Krankenhaus, als Sigurður Óli später am Abend dort vorbeischaute. Ebeneser hatte sich am späten Nachmittag fürkurze Zeit vom Krankenbett entfernt, und als er zurückkehrte, war Lína gestorben. Er saß ganz allein im Aufenthaltsraum und wirkte verwirrt und ratlos. Er hatte der Bahre nachgeblickt, auf der die Tote ins Leichenhaus gebracht wurde. Dort würde sie obduziert werden, um die genaue Todesursache festzustellen.
»Ich war nicht bei ihr«, sagte Ebeneser, als Sigurður Óli sich zu ihm gesetzt hatte, »ich meine, als sie starb.«
»Mein Beileid«, sagte Sigurður Óli, dem es in den Fingern juckte, sich Ebeneser vorzuknöpfen. Er hielt es aber für geraten, ihm ein wenig Zeit zu gönnen, um sich wieder zu fangen, aber auf keinen Fall mehr, als er für seinen Besuch bei Gagga gebraucht hatte.
»Sie ist nicht mehr aufgewacht«, sagte Ebeneser. »Sie hat die Augen nicht mehr geöffnet. Ich habe einfach nicht geglaubt, dass es so ernst wäre. Als ich zurückkam, war sie tot. Was … Was ist da eigentlich geschehen?«
»Wir haben vor, das herauszufinden«, sagte Sigurður Óli. »Aber du musst uns dabei helfen.«
»Helfen? Wie denn?«
»Weshalb wurde dieser Angriff auf sie verübt?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wer das war.«
»Wer wusste davon, dass sie allein zu Hause war?«
»Wusste davon? Keine Ahnung.«
»Hattet ihr irgendwelche Differenzen mit gewalttätigen Personen, mit Schuldeneintreibern beispielsweise?«
»Nein.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja, selbstverständlich bin ich mir sicher.«
»Ich bin nicht der Meinung, dass der Angreifer einEinbrecher war. In Anbetracht dessen, was ich gesehen habe, hat es sich wohl eher um einen Schuldeneintreiber gehandelt. Aber er muss nicht in eigener Sache gekommen sein. Verstehst du, was ich meine?«
»Nein.«
»Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass er von jemandem geschickt worden ist, und zwar in der Absicht, euch beide durch Gewalt einzuschüchtern. Oder nur Lína. Deswegen frage ich: Wer wusste davon, dass du an dem Tag nicht in der Stadt sein würdest? Dass Lína allein zu Hause war?«
»Ich weiß es einfach nicht. Müssen wir wirklich jetzt darüber sprechen?«
Sie saßen einander in dem Aufenthaltsraum gegenüber, und ringsherum herrschte vollkommene Stille, bis auf das Ticken einer großen Uhr, die sich voranschleppte.
Sigurður Óli beugte sich vor und flüsterte: »Ebeneser, ich weiß, dass ihr beide versucht habt, mit bestimmten Fotos Geld von Leuten zu erpressen.«
Ebeneser starrte ihn an.
»So etwas kann gefährlich sein«, fuhr Sigurður Óli fort. »Ich weiß, dass ihr das gemacht habt, denn ich kenne Leute, die ihr mit eurem verrückten Einfall belästigt habt. Du weißt, von wem ich rede?«
Ebeneser schüttelte den Kopf.
»In Ordnung«, sagte Sigurður Óli. »Ganz, wie du möchtest. Ich glaube aber nicht, dass meine Bekannten euch diesen Kerl auf den Hals gehetzt haben. Ich bezweifle es stark, weil ich diese Leute
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