Abgründe
reicht«, sagte Sigurður Óli.
»Wirst du mit meiner Frau sprechen?«
»Kann sie etwas davon bestätigen?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Dann brauche ich nicht mit ihr zu reden«, sagteSigurður Óli. Er nahm für alle Fälle die Telefonnummer der Freundin in Empfang, stand auf und verabschiedete sich.
Später am Tag traf er auf einen Mann, der gar nicht wusste, dass sein Auto in der Nähe von Línas Haus gestanden hatte. Nicht er, sondern sein Sohn hatte gestern Abend das Auto gehabt. Nach einigen Nachforschungen stellte sich heraus, dass der Junge zusammen mit einem Freund in einem der benachbarten Häuser gewesen war. Die beiden waren im Gymnasium und hatten einen Schulkameraden abgeholt, um ins Laugarás-Kino zu gehen. Der Film hatte um die gleiche Zeit begonnen, als der Überfall auf Sigurlína stattfand.
Der Mann sah Sigurður Óli an.
»Wegen dem Jungen brauchst du dir keine Gedanken zu machen.«
»Wieso nicht?«
»Der könnte nie gewalttätig werden. Der fürchtet sich sogar vor einer Stubenfliege.«
Schließlich setzte sich Sigurður Óli mit einer Frau um die dreißig zusammen, die in der Telefonzentrale einer großen Getränkefirma arbeitete. Als Sigurður Óli sich vorstellte, ließ sie sich ablösen. Er wollte die Unterredung mit ihr nicht im Beisein von anderen durchführen, und ging mit ihr in die Kantine für die Angestellten.
»Ich hätte gern gewusst, was du vorgestern Abend in einer Straße nicht weit vom Laugarás-Kino gemacht hast.«
»Vorgestern Abend?«, fragte die Frau. »Wozu willst du das wissen?«
»Dein Auto stand in der Nähe eines Hauses, in dem eine Frau brutal überfallen wurde.«
»Ich habe niemanden überfallen«, sagte die junge Frau.
»Nein«, sagte Sigurður Óli. »Aber dein Auto war dort.«
Er erklärte ihr, dass die Kriminalpolizei sämtliche Personen überprüfte, deren Autos in der Nähe des Tatorts erfasst worden waren. Es handele sich um einen Fall von schwerer Körperverletzung, und der Polizei ginge es darum festzustellen, ob diesen Personen vielleicht etwas aufgefallen war, was für die Ermittlung von Interesse sei. Sigurður Ólis Ausführungen zogen sich etwas in die Länge, und es war Sara anzusehen, dass sie sich langweilte.
»Ich habe nichts gesehen«, erklärte sie.
»Was hast du dort gemacht?«
»Ich habe eine Freundin besucht. Was ist denn überhaupt passiert? Ich habe in den Nachrichten etwas von einem Einbruch gehört.«
»Darüber liegen uns noch keine ausreichenden Informationen vor«, sagte Sigurður Óli. »Ich brauche den Namen und die Telefonnummer deiner Freundin.«
Sara gab ihm die gewünschten Auskünfte.
»Hast du bei ihr übernachtet?«
»Ey, das grenzt ja schon an Bespitzelung!«
Die Tür zur Kantine öffnete sich, und ein Angestellter der Getränkefabrik nickte Sara zu.
»Nein. Besteht vielleicht ein Anlass dazu?«, fragte Sigurður Óli und stand auf.
»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Sara lächelnd.
Sigurður Óli stieg gerade wieder ins Auto, als sein Handy sich meldete. Die Nummer kannte er. Es warFinnur, der ihn darüber informierte, dass Sigurlína Þorgrímsdóttir vor einer Viertelstunde an den Folgen der Schädelverletzung gestorben sei.
»Und was zum Teufel hattest du bei ihr zu suchen, Siggi?«, zischte Finnur, bevor er das Gespräch beendete.
Dreizehn
Sigurður Ólis Mutter öffnete die Tür. Schon allein ihr Blick gab ihm deutlich zu verstehen, dass er viel zu spät kam. Er besaß keinen Schlüssel zu ihrem Haus, das wollte sie nicht, denn der Gedanke, dass er jederzeit bei ihr hereinspazieren konnte, war ihr unangenehm. Sie hatte ihn zum Abendessen eingeladen. Das Essen hatte sie zur verabredeten Zeit serviert, es hatte also bereits geraume Zeit auf dem Tisch gestanden und war kalt geworden. Ihr Lebensabschnittsgefährte Sæmundur war nirgends zu sehen.
Seine Mutter wurde immer nur Gagga genannt. Sie war über sechzig und lebte in einem großen Einfamilienhaus im teuersten Viertel von Garðabær. Dort war sie von lauter Wirtschaftsprüfern, Ärzten, Juristen und anderen Großverdienern umgeben, die zwei oder drei Autos besaßen und sich Fachleute leisteten, um den Garten in Schuss zu halten, Weihnachtslichterketten aufzuhängen und Reparaturen am Haus vorzunehmen. Gagga hatte aber nicht immer dazugehört. Als sie Sigurður Ólis Vater kennenlernte, war das Geld sehr viel knapper gewesen. Das war auch direkt nach der Scheidung wieder der Fall, obwohl der »Klempner«, wie sie ihren Exmann ständig
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