Abgründe
öffnete sie die Tür zu Andrés’ Wohnung. Ein übler Gestank von Schmutz und Essensresten schlug ihnen schon in der Tür entgegen. Sigurður Óli war bereits einmal in dieser Wohnung gewesen, und deswegen wusste er, was ihn erwartete, der verdreckte Haushalt eines Alkoholikers. Sigurður Óli machte Licht, und was sie sahen, war nichts als Unrat und Chaos. Die Wohnung war nicht groß, und es stellte sich schnell heraus, dass sich dort kein Andrés in Lebensgefahr befand. Er war einfach nicht zu Hause.
Er erinnerte sich an das letzte Mal, als er diese Wohnung betreten hatte, und an das, worüber sich Erlendur und Andrés unterhalten hatten. Bei diesem Besuch hatte sich Andrés sehr eigentümlich verhalten, was vielleicht nicht zuletzt daran lag, dass er über einen längeren Zeitraum hinweg getrunken zu haben schien. Er hatte angedeutet, dass ein gefährlicher Mann in dem Viertel wohnte, ein Mann, den er von früher kannte. Erlendur und er hatten ihn so verstanden, dass er über einen Kinderschänder redete. Andrés hatte sich aber hartnäckig geweigert, ihnen mehr Informationen über diesen Mann zu geben. Auf anderem Wege hatten sie herausgefunden, dass es sich um Andrés’ Stiefvater handelte, einen Mann namens Rögnvaldur, der sich zuweilen aber auch andere Namen zulegte, beispielsweise Gestur. Es war ihnen nicht gelungen, diesen Mann zu finden, da sie nur die vagen und verworrenen Hinweise von Andrés hatten, und er war weit davon entfernt, ein zuverlässiger Zeuge zu sein. Andrés hatte behauptet, dieser Rögnvaldur habe sein Leben ruiniert, er sei ein Albtraum, den er nicht loswerden könne. Er hatte sogar durchblicken lassen, dass er einen Mord begangen hatte, Genaueres wollte er aber nicht sagen. Erlendur hatte das so interpretiert, dass Andrés damit die Vernichtung seiner eigenen Persönlichkeit gemeint hatte. Als versuche er, auf diese Weise die Qualen zu beschreiben, die er durchlitten hatte, die sein Leben zerstört hatten.
Sigurður Óli fand keinen Hinweis darauf, dass sich Andrés kürzlich in der Wohnung aufgehalten hatte.
Eines fiel ihm jedoch in all dem Unrat und dem Chaos auf. Andrés hatte sich in der Küche damit beschäftigt, Leder zurechtzuschneiden. Reste davon befanden sich auf dem Küchentisch und auf dem Fußboden, auf dem Tisch lag eine Nähnadel mit starkem Zwirn. Sigurður Óli betrachtete diese Lederreste aufmerksam und überlegte, was Andrés damit vorgehabt hatte. Die Nachbarin wollte unbedingt die Wohnung so schnell wie möglich wieder verlassen, da Andrés nicht zu Hause war, aber Sigurður Óli blieb unbeirrt vor dem Küchentisch stehen, starrte auf die Schnipsel und schien sie im Geiste zurechtzulegen. Da steckte eine Struktur dahinter, die er aber nicht sofort durchschaute. Er versuchte, die Stücke zusammenzupuzzeln, um zu sehen, was der Kerl da zurechtgeschnitten hatte. Als er sich aufrichtete, um das Werk zu betrachten, sah er ein Quadrat mit etwa vierzig Zentimeter langen Seiten vor sich, aus dem ein längliches Stück herausgeschnitten worden war, das nach unten hin schmaler wurde.
Sigurður Óli starrte auf den Tisch und die Nadel mit dem Zwirn. Es waren noch ein paar kleinere Lederstücke übrig, die er versuchte, in das Bild einzufügen. Es war nicht schwierig. Er sah ein menschliches Gesicht mit Augen und Mund vor sich. Andrés schien sich eine Maske zurechtgeschnitten zu haben, aber Sigurður Óli konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum und wozu.
Sigurður Óli brauchte nicht lange, um Andrés’ Freund und Begleiter aus früheren Zeiten ausfindig zu machen. Die beiden hatten sich damals auf den Straßen von Reykjavík herumgetrieben. Er hieß Hólmgeir, wurde aber allgemein nur Geiri genannt. Inzwischen war er von der schiefen wieder auf die gerade Bahn gelangt, trank nicht mehr und hatte eine feste Anstellung, aber er hatte viele Jahre in der Gosse hinter sich und war deswegen der Polizei kein Unbekannter, ganz ähnlich wie Andrés. Auch er hatte wegen Diebstahls und Körperverletzung mehrfach eingesessen, aber immer nur kurz, denn seine kriminellen Aktivitäten hielten sich in kleinem Rahmen. Als Alkoholiker und Drogenabhängiger hatte er seinen Konsum meist mit Einbrüchen und Diebstählen finanziert. Manchmal musste er sich zur Wehr setzen, wie er sich in den Polizeiberichten ausgedrückt hatte, die Sigurður Óli über ihn gefunden hatte. Nicht selten waren andere über ihn hergefallen, um ihm das zu nehmen, was er rechtmäßig besaß, aber
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