Abgründe
durchaus Isländisch sprechen.«
Wieder und wieder ließen sie den kurzen Streifen ablaufen, zehn Mal, zwanzig Mal. Sigurður Óli hatte selber auch versucht zu erraten, was der Junge sagte, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Er hoffte, dass es sich vielleicht um einen Namen handelte, aber er wusste, dass es wohl kaum so einfach sein würde.
»… hör auf …«
Elísabet starrte wie gebannt auf den Bildschirm, während sie diese Worte ohne jegliche Betonung, flach und mechanisch äußerte. Ihre leise, helle Stimme erinnerte an die eines Kindes.
Hildur sah zunächst zu ihr hinüber, und dann zu Sigurður Óli.
»Ich habe sie noch nie sprechen hören«, flüsterte Hildur überrascht.
»… hör auf …« , sagte Elísabet wieder.
Es war schon ziemlich spät, als Elísabet endlich glaubte, mit einiger Sicherheit sagen zu können, um was der Junge gefleht hatte.
hör auf
hör auf
ich will nicht mehr
hör auf damit
Fünfundzwanzig
Nachdem Sigurður Óli mit den Fotos aus der Filmsequenz zu den Friseursalons gefahren war, hatte er versucht herauszufinden, wo Andrés lebte. Es stellte sich heraus, dass er immer noch unter derselben Adresse gemeldet war wie im vergangenen Winter. Er fuhr zu seiner Wohnung und hämmerte so heftig gegen die Tür, dass es im ganzen Treppenhaus widerhallte. Er überlegte gerade, ob er die Tür aufbrechen sollte, als sich die Tür zur Wohnung nebenan öffnete und Andrés’ Nachbarin herauskam, eine Frau um die siebzig.
»Machst du diesen Krach?«, fragte sie und sah Sigurður Óli ärgerlich an.
»Weißt du etwas von Andrés, hast du ihn in letzter Zeit gesehen?«, fragte Sigurður Óli und ließ sich durch die böse Miene der Frau nicht irritieren.
»Andrés? Was willst du von ihm?«
»Nichts. Ich muss bloß mit ihm sprechen«, entgegnete Sigurður Óli, der der Frau lieber gesagt hätte, dass sie das nichts anginge.
»Andrés ist schon seit längerer Zeit nicht mehr zu Hause gewesen«, sagte die Frau, während sie Sigurður Óli abschätzig musterte.
»Du weißt ja wohl, dass er säuft und sich herumtreibt?«, fragte Sigurður Óli.
»Na und? Ist er deswegen ein schlechter Mensch?«, entgegnete die Frau. »Er hat mich nie gestört. Er ist sehr hilfsbereit, macht nie Krach, und er ist nicht auf andere angewiesen. Was ist dabei, wenn er mal einen über den Durst trinkt?«
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Wer bist du eigentlich, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin von der Kriminalpolizei«, erklärte Sigurður Óli. »Ich muss mit ihm reden, aber es ist nichts Ernstes. Ich will ihn nur treffen. Kannst du mir sagen, wo er ist?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte die Frau und sah Sigurður Óli misstrauisch an.
»Könnte es sein, dass er in seiner Wohnung ist? Vielleicht in einem Zustand, in dem er mich gar nicht hört?«
Die Frau zögerte und sah zu Andrés’ Wohnungstür hinüber.
»Du hast ihn längere Zeit nicht gesehen«, fuhr Sigurður Óli fort. »Hast du nicht daran gedacht, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte?«
»Er hat mir einen Schlüssel gegeben«, sagte die Frau.
»Du hast einen Schlüssel zu seiner Wohnung?«
»Er sagte, er verliert immer seine Schlüssel, deswegen wollte er, dass ich einen für ihn aufbewahre. Er hat ihn auch manchmal benutzen müssen. Das letzte Mal, als ich ihn sah, hat er sich auch den Schlüssel bei mir geholt.«
»Und in was für einem Zustand war er?«
»Er sah ziemlich abgerissen aus, der Ärmste«, sagte die Frau. »Irgendetwas hat ihn aufgewühlt, aber ich weiß nicht, was. Er hat mir aber gesagt, ich solle mir seinetwegen keine Sorgen machen.«
»Wann war das?«
»Irgendwann im Spätsommer.«
»Im Sommer?!«
»Es ist überhaupt nicht ungewöhnlich, dass ich ihn längere Zeit nicht sehe«, sagte die Frau, die jetzt in die Defensive ging, so als wäre sie für ihren Nachbarn verantwortlich.
»Sollten wir nicht aufschließen und nachsehen?«, schlug Sigurður Óli vor.
Die Frau war unschlüssig, was sie tun sollte. Auf einem hübschen Kupferschild an ihrer Wohnungstür stand ihr Name, Margrét Eymunds.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er da drin ist«, sagte sie.
»Wäre es nicht besser, das zu kontrollieren?«
»Es kann vielleicht nichts schaden«, sagte sie. »Ihm könnte ja tatsächlich etwas zugestoßen sein. Aber du rührst mir nichts an. Ich bezweifle stark, dass er Interesse daran hat, dass die Polizei bei ihm herumschnüffelt.«
Sie ging in ihre Wohnung, um den Ersatzschlüssel zu holen, dann
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