Abgründe
eines war wichtig, nämlich dass man damit ehrlich und korrekt umging.
Als das Spiel zu Ende war, schaltete Sigurður Óli auf einen anderen Sender, doch die innere Unruhe blieb. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Stück Film ab, und er sah den flehenden Jungen vor sich. Er erinnerte sich an den kalten Januartag zu Beginn des Jahres, als er und Erlendur bei Andrés gewesen waren. Der hatte damals offensichtlich eine längere Saufperiode hinter sich, er roch genauso scheußlich, wie er aussah, und hatte urplötzlich angefangen, von sich selber als Klein-Drési zu reden. Erlendur war überzeugt gewesen, dass er als Kind so genannt worden war. Drési. War das der kleine Drési auf dem Film? Wo war der Rest des Films? Gab es womöglich noch mehr Filme? Was hatte der Junge von seinem Stiefvater erdulden müssen? Und wo steckte dieser Mann heute? Rögnvaldur. Sigurður Óli hatte die Polizeiakten durchforstet, aber niemanden dieses Namens gefunden, der für die Rolle von Andrés’ Stiefvater in Frage kam.
Andrés hatte seinerzeit im Januar in seiner heruntergekommenen Wohnung fürchterlich ausgesehen, und jetzt, zu Beginn des Winters, schien es ihm fast noch schlechter zu gehen. Die Schattengestalt, die Sigurður Óli hinter dem Hauptdezernat getroffen hatte, war kaum noch die Hälfte von dem Nichts, das er gewesen war, mit grauen und eingefallenen Wangen, stoppelbärtig und stinkend in seinen verdreckten Klamotten, ein verängstigtes Wrack. Was war geschehen? Und wo war Andrés untergetaucht?
Musste man nicht davon ausgehen, dass der Junge in dem Film Andrés selber war?
Sigurður Óli konnte sich noch ganz genau an die Zeit erinnern, als er in diesem Alter gewesen war. Damals ließen sich seine Eltern gerade scheiden, und er lebte bei seiner Mutter. Ab und zu war er an den Wochenenden bei seinem Vater, und es kam manchmal vor, dass er ihn zu seiner Arbeit begleitete. Sein Vater arbeitete sieben Tage in der Woche, und nicht selten bis spät in den Abend. Er lernte die Arbeit eines Installateurs kennen und fand heraus, dass sein Vater unter seinen Kollegen einen Spitznamen hatte, der Sigurður Óli sehr viel Kopfzerbrechen machte. Irgendwann einmal hatte derVater ihn mittags mitten in der Woche mit in ein Lokal genommen, es war Aschermittwoch gewesen, an dem Tag war schulfrei. Seine Mutter war in der Arbeit unabkömmlich, und aus irgendwelchen Gründen durfte er nicht allein zu Hause sein. Wenn sein Vater sich keinen Proviant mitgenommen hatte, aß er unter der Woche mittags immer im gleichen Lokal am Ármúli, das bei allen Handwerkern beliebt war. Das Essen dort war nicht teuer, und es gab gute Hausmannskost wie Fleischbällchen oder Lammkoteletts. Die Mittagsgäste stopften sich das Essen hinein, rauchten anschließend eine Zigarette und hielten ein Schwätzchen, bevor sie sich wieder an die Arbeit begaben. Für alles zusammen brauchten sie nur zwanzig Minuten, höchstens eine halbe Stunde, dann waren sie wieder auf und davon.
An dem besagten Aschermittwoch war Sigurður Óli mit seinem Vater in das Lokal gegangen. Er stand an einem Tisch und wartete auf seinen Vater, der in der Warteschlange am Ausgabetresen stand. Sigurður Óli wurde von einem Mann angerempelt, der es eilig hatte, und verlor das Gleichgewicht. Der Mann griff blitzschnell nach ihm und konnte ihn vor dem Sturz bewahren.
»Entschuldige, mein Junge«, sagte der Mann, der ihn festhielt. »Wieso lungerst du überhaupt hier herum?«
Seine Worte klangen ziemlich barsch, so als gehöre es sich nicht für einen Jungen, Erwachsenen im Weg zu stehen. Vielleicht war er aber auch neugierig, warum ein kleiner Bursche wie er sich in ein Esslokal wie dieses verirrt hatte.
»Ich bin mit ihm hier«, sagte Sigurður Óli schüchtern und zögernd, indem er auf seinen Vater deutete,der sich in dem Augenblick zu ihm umdrehte und ihn anlächelte.
»Ach so, mit dem Dauertropf«, erwiderte der Mann und nickte seinem Vater zu, strich dem Jungen über den Kopf und beeilte sich zum Ausgang.
Die Worte des Mannes hatten nicht nur spöttisch, sondern auch geringschätzig geklungen, sie hatten Sigurður Óli überrascht. Es war ihm nie zuvor in den Sinn gekommen, über die gesellschaftliche Stellung seines Vaters nachzudenken, und er brauchte einige Zeit, um zu begreifen, dass das komische Wort dieses Mannes einen verächtlichen Beiklang hatte.
Seinem Vater gegenüber hatte er das nie erwähnt. Später fand er heraus, was das Wort bedeutete, aber trotzdem
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