Abgründe
der Grund war. Ich kannte ihn zwar, aber bin ihm nie richtig nahegekommen. Andrés war ein Buch mit sieben Siegeln. Aber irgendetwas war da. Tief in seinem Inneren kochten Ekel und Wut, und die konnten jederzeit ausbrechen. Allerdings ist bei mir auch so einiges im Nebel, da gibt es lange Abschnitte in meinem Leben, an die ich mich kaum erinnern kann. Tut mir leid.«
»Weißt du, was Andrés in den Jahren davor gemacht hat? Hat er mal irgendwo gearbeitet?«
»Andrés wollte irgendwann mal das Polsterhandwerk lernen, als er jung war.«
»Polstern?«, wiederholte Sigurður Óli und sah die Lederschnipsel auf dem Küchentisch vor sich.
»Aber daraus ist natürlich nie etwas geworden.«
»Du weißt nicht, ob er jemals irgendwelche Aufträge dieser Art erhalten hat?«
»Nein.«
»Und du weißt wirklich nicht, wo er sich aufhalten könnte?«
»Nein.«
»Hatte er irgendwelche Freunde, bei denen er Unterschlupf finden könnte?«, fragte Sigurður Óli. »Weißt du von jemandem, zu dem er vielleicht immer noch Kontakt hat?«
»Er hat nie jemanden besucht, und niemand hat je nach ihm gefragt. Er hing seinerzeit viel in der Busstation am Hlemmur herum. Da war es warm, und wenn wir uns ruhig verhielten, wurden wir auch in Ruhe gelassen. Freunde hat er aber nie gehabt, soweit ich weiß.Allenfalls kurze Bekanntschaften. Oft haben solche Leute den Winter nicht überlebt.«
»Weißt du von irgendwelchen Angehörigen?«
»Er hat manchmal über seine Mutter geredet, aber wenn ich es richtig verstanden habe, war die schon lange tot.«
»Und was hat er über sie gesagt?«
»Soweit ich mich erinnern kann, nichts Gutes«, sagte Hólmgeir.
»Weshalb nicht?«
»Das weiß ich nicht mehr so genau. Aber ich meine mich zu erinnern, dass es mit irgendwelchen Leuten auf dem Land zu tun hatte, bei denen er war.«
»Weißt du, wer das war?«
»Nein. Aber Andrés hat gut über sie gesprochen. Ich hatte das Gefühl, er wäre lieber bei ihnen geblieben und nicht in die Stadt gekommen. Es hörte sich so an, als sei es die einzige Zeit in seinem Leben gewesen, in der es ihm gut ging.«
Sechsundzwanzig
Sigurður Óli kam kurz vor Mitternacht nach Hause und setzte sich in den Sessel vor dem Fernseher. Er schaltete zunächst auf einen Sender mit einer amerikanischen Comedy-Serie, verlor aber schnell das Interesse daran und zappte so lange herum, bis er eine Football-Übertragung fand. Aber auch darauf konnte er sich nicht konzentrieren, denn er musste immer wieder an seine Mutter denken, und auch an Bergþóra und ihre Beziehung, die langsam, aber sicher in die Brüche gegangen war, ohne dass er sich bemüht hatte, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Er hatte im Grunde genommen alles einfach so vor sich hindümpeln lassen, bis nichts mehr zu retten war. Vielleicht war ihre Beziehung an seinem Starrsinn und seiner Rücksichtslosigkeit zerbrochen.
Dann fiel ihm Patrekur ein. Er hatte nichts von ihm gehört, seit er zur Vernehmung vorgeladen worden war. Dann dachte er an Finnur, der ihm regelrecht gedroht hatte. Und das war gar nicht Finnurs Art. Er arbeitete gründlich und zog normalerweise keine voreiligen Schlüsse, aber er kannte natürlich Patrekur und Súsanna nicht. Sigurður Óli hatte nichts gegen Finnur. Er war verheiratet und hatte Familie, und bei allem, was er sich beruflich oder privat vornahm, ging er systematisch vor. Seine drei Töchter wurden mit jeweils zwei Jahren Abstand geboren und hatten alle im gleichen Monat Geburtstag. Seine Frau unterrichtete halbtags am Gymnasium. Er war sehr pedantisch und übertrieben gewissenhaft in seiner Arbeit, und er bestand immer darauf, für klare Verhältnisse im Umgang mit den Menschen zu sorgen, mit denen er sich als Kriminalbeamter befassen musste. Deswegen überraschte ihn Finnurs missbilligende Reaktion auf Sigurður Ólis Entscheidung, den Fall nicht aus der Hand zu geben, nicht sonderlich. Aber Finnur hatte genau wie alle anderen auch seine Fehler. Sigurður Óli hatte ihn an diese Tatsache erinnert, und anscheinend war es ihm gelungen, ihn zeitweilig ruhigzustellen, doch er wusste nicht, wie lange das vorhalten würde. Sigurður Óli fand nichts dabei, an der Ermittlung teilzunehmen, auch wenn sein Freund involviert war. Er war überzeugt, dass ihre Freundschaft sein Urteilsvermögen nicht beeinträchtigte. In diesem winzigen Land war es einfach nicht zu vermeiden, dass man Leute kannte, dass man freundschaftliche, familiäre oder verwandtschaftliche Beziehungen hatte. Nur
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