Abgründe
Þórarinn, das seine Frau ihnen zur Verfügung gestellt hatte, war in den Zeitungen erschienen. Im Fahndungstext hieß es, dass er im Zusammenhang mit dem Mord an Sigurlína gesucht würde und unter Umständen gefährlich sein könne. Es dauerte auch nicht lange, bis die ersten Hinweise von Leuten eintrafen, die ihm angeblich begegnet waren, sowohl in Reykjavík als auch außerhalb. Sogar in den Ostfjorden wollte ihn jemand gesehen haben.
Unterdessen verbrachte Sigurður Óli den Großteil des Tages mit seinem anderen Fall, der wesentlich schwerer in den Griff zu bekommen war. Im Zusammenhang damit war es sogar erforderlich, jemanden zu Rate zu ziehen, der von den Lippen lesen konnte. Erst gegen Abend hatte er endlich ein Treffen mit jemandem arrangiert, der sich auf so etwas verstand.Elínborg hatte ihm geraten, sich mit dem Verband der Hörgeschädigten in Verbindung zu setzen. Die Dame im Büro des Verbandes erwies sich als überaus hilfsbereit und kompetent, und schließlich hatte er E-Mail-Kontakt zu einer Frau, die angeblich zu den fähigsten Lippenlesern in Island gehörte. Sie vereinbarten ein Treffen für achtzehn Uhr im Hauptdezernat.
Sigurður Óli beabsichtigte, ihr den Filmstreifen zu zeigen, der ihm in der zerknüllten Plastiktüte zugespielt worden war.
Das kleine Stück Film war von Fachleuten untersucht und auf eine DVD überspielt worden. Sie hatten den Film auch gereinigt und die Bildqualität verbessert, so gut das auf die Schnelle zu bewerkstelligen war. Es handelte sich um einen Kodak 8-mm-Film, der seit 1990 nicht mehr hergestellt wurde. Bei der kurzen Sequenz handelte es sich nicht um eine professionelle Produktion, sondern um einen Amateurfilm für den privaten Gebrauch. Es war nicht einfach, festzustellen, aus welchem Land der Streifen stammte. Der Techniker von der Spurensicherung schloss Sigurður Óli gegenüber am Telefon keineswegs aus, dass Island als Ursprungsland in Frage käme.
Aus verschiedenen Gründen war es auch schwierig, irgendwelche Schlüsse zu ziehen, wo und wann der Film aufgenommen worden war. Einer der Gründe dafür war der relativ enge Bildwinkel, wie sich der Filmexperte ausdrückte. Was bedeutete, dass nicht viel von der unmittelbaren Umgebung zu sehen war, nur ein Möbelstück war teilweise im Bild, es konnte sich dabei um ein Bett oder eine Couch handeln. Diesbezüglich war also aus dem Bildmaterial nichts herauszuholen. Eskonnte relativ jungen Datums, also etwa um 1990 entstanden sein, aber genauso gut auch aus der Zeit stammen, in der diese Kodak-Filme ihre größte Verbreitung hatten, und das war vor etwa einem halben Jahrhundert. Es gab keine Möglichkeit, den Zeitpunkt der Entstehung genauer festzulegen. Die Sequenz war nur sehr kurz, die Bildfrequenz betrug 16 Aufnahmen pro Sekunde, insgesamt 192 Bilder. Auf jedem einzelnen Bild befand sich dasselbe Motiv, derselbe Blickwinkel, dieselbe Aktion. Der Film war offensichtlich in einem Innenraum aufgenommen, und zwar in einer Wohnung und nicht in einem Atelier. Das Bett bzw. die Couch deutete auf ein Schlafzimmer, aber es ließen sich daraus keine genauen Rückschlüsse auf den Ort ziehen. Die Linse der Kamera war ständig schräg nach unten gerichtet. Der Raum gewährte keinen Ausblick aus einem Fenster, aus dem man auf die Umgebung hätte schließen können.
Der Film hatte keinen Ton, aber es wurde eindeutig gesprochen. Die Techniker kamen in diesem Punkt nicht weiter, und auch Sigurður Óli konnte nicht erkennen, was gesagt wurde. Deswegen war er auf die Idee mit dem Lippenleser gekommen.
Allein die Szene, die in diesen zwölf Sekunden zu sehen war, weckte sein Interesse, aber vielleicht noch mehr die Vorstellung, was sich daran anschließend ereignet haben musste. So wenig wie sonst aus dem Film herauszuholen war, erzählte er doch eine Geschichte, war ein schweigender Zeuge von Verzweiflung und Panik eines vollkommen wehrlosen Wesens. Und er kündigte wesentlich Schlimmeres an. So etwas konnte man in Anbetracht der Tatsache, auf welche Weise das kurzeStück Film in die Hände der Polizei gelangt war, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Aufgrund seiner Berufserfahrung konnte sich Sigurður Óli des Gefühls nicht erwehren, dass Erschütterndes zu Tage kommen würde, wenn man den ganzen Film finden würde.
Es war schon fast sechs, als man Sigurður Óli mitteilte, dass in der Eingangshalle zwei Frauen auf ihn warteten. Er holte sie in der Eingangshalle ab. Die Lippenleserin hieß Elísabet, und sie
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