Abgründe
wurde von einer Dolmetscherin für Gebärdensprache begleitet, die Hildur hieß. Sigurður Óli führte sie in sein Büro, er hatte sich ein DVD-Gerät und einen Flachbildschirm besorgt. Die beiden Frauen nahmen auf den Stühlen Platz, die Sigurður Óli vor dem Bildschirm aufgestellt hatte, und er erklärte noch einmal, um was es ging. Der kurze Filmstreifen war anonym bei der Kriminalpolizei eingegangen. Bei dem, was darauf zu sehen war, handelte es sich möglicherweise um ein Verbrechen, das aber vermutlich schon lange zurücklag. Er sagte Elísabet und Hildur, dass sie hinzugezogen worden seien, um herauszubekommen, was auf dem Film gesagt wurde. Die Dolmetscherin übersetzte synchron. Unterschiedlichere Frauentypen als diese beiden konnte man sich kaum vorstellen. Die Lippenleserin war um die dreißig, schmal und klein, um nicht zu sagen schmächtig. Sigurður Óli kam sie wie ein zerbrechliches Porzellanfigürchen vor. Die Dolmetscherin dagegen war groß und stämmig, sie ging auf die sechzig zu. Sie redete laut, hatte keine Gehörprobleme, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie nicht auf den Mund gefallen war. Das Wichtigste war aber, dass ihr das Dolmetschen flink von der Hand ging, sie geriet nie ins Stockenund gab das, was die Lippenleserin ihr bedeutete, unverzüglich und exakt weiter.
Sie sahen sich den kurzen Film drei Mal an. Er zeigte einen Jungen, der nicht viel älter als zehn sein konnte. Er versuchte, demjenigen zu entkommen, der den Film aufgenommen hatte. Der Junge war nackt, und er fiel von einem Bett oder einer Couch herunter, von der ein Teil zu sehen war, lag einen Augenblick auf dem Boden und kroch dann rückwärts auf allen vieren von der Kamera weg. Er schaute entweder direkt in die Linse oder auf denjenigen, der hinter der Kamera stand. Dabei bewegten sich seine Lippen. Seine verzweifelten und bizarren Versuche zu entkommen erinnerten an ein in die Enge getriebenes Tier. Ganz offensichtlich fürchtete er sich vor der Person hinter der Kamera, und es hatte den Anschein, als flehte er um Schonung. Die kurze Sequenz hörte ebenso plötzlich auf, wie sie begonnen hatte, in Panik, Hilflosigkeit und Erniedrigung. Die Pein in der Miene des Jungen nahm die beiden Frauen genauso stark mit wie Sigurður Óli, als er das kurze Stück Film zum ersten Mal angesehen hatte. Sie wandten sich ihm zu.
»Wer ist das?«, fragte Hildur. »Wer ist der Junge?«
»Wir wissen es nicht«, antwortete Sigurður Óli, während Hildur dolmetschte. »Wir versuchen, es herauszufinden.«
»Was ist da geschehen?«, fragte Elísabet.
»Das wissen wir auch nicht«, sagte Sigurður Óli. »Uns wurde der Filmstreifen anonym zugespielt, mehr wissen wir nicht. Kannst du sehen, was der Junge sagt?«
»Es ist sehr undeutlich«, bedeutete Elísabet. »Ich muss es mir genauer ansehen.«
»Sieh es dir so oft an, wie du möchtest«, sagte Sigurður Óli.
»Wisst ihr, wer die Aufnahmen gemacht hat?«
»Nein.«
»Es ist nur ein kleines Stück, wisst ihr etwas über den Rest des Films?«
»Nein. Das ist alles, was wir haben.«
»Wann wurde der Film gedreht?«
»Auch das wissen wir nicht, vermutlich ist es aber schon lange her. Wir können nicht viel dazu sagen, der Kamera-Auschnitt zeigt nichts, was man genauer lokalisieren könnte. Wir wissen, dass solche Filme bis 1990 im Handel waren, doch der Film könnte auch noch danach gedreht worden sein. Möglicherweise könnte der Haarschnitt des Jungen uns etwas sagen.«
Sigurður Óli erklärte den Frauen, dass er drei Fotos hatte anfertigen lassen, mit denen er zu einigen Friseuren gegangen war, die ihren Beruf schon lange ausübten. Alle kamen zu demselben Schluss. Der Junge trug einen sogenannten Herrenschnitt, der etwa bis 1970 in Mode gewesen war, rundum im unteren Bereich kurz und mit längerem Oberhaar, das in die Stirn fiel.
»Dann stammt der Film also aus den sechziger Jahren?«, fragte Elísabet.
»Vermutlich«, antwortete Sigurður Óli.
»Bekamen damals nicht viele Jungen so einen Haarschnitt verpasst, wenn sie aufs Land geschickt wurden?«, warf Hildur ein. »Ich habe zwei jüngere Brüder, die vor und nach 1960 geboren wurden, und die sahen immer so aus, bevor sie im Sommer aufs Land geschickt wurden.«
»Meinst du damit, dass die Aufnahmen irgendwo auf dem Land gemacht wurden?«, fragte Sigurður Óli.
Hildur zuckte die Achseln.
»Es ist sehr schwierig auszumachen, was der Junge sagt«, bedeutete Elísabet. »Aber meiner Meinung nach könnte er
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