Abgründe
geantwortet.
Er hatte keine Trauer gespürt. Keine Verwunderung und keine Wut. Er hatte überhaupt nichts gespürt, und das war schon lange so gewesen.
Die Frau hatte mit ihm über die weiteren Maßnahmen reden wollen, über das Beerdigungsinstitut und dergleichen, doch da hatte er schon längst nicht mehr zugehört.
»Das geht mich nichts an«, hatte er erklärt und aufgelegt.
Er trank einen Schluck aus der Flasche, blickte zu den Wolken hoch, um zu sehen, ob es irgendwo eine Wolkenlücke gäbe, sah aber nirgends einen hellen Schimmer. Er kannte den Friedhof gut, er kam hierher, um Frieden und Sicherheit zu finden. Hier war niemand, der ihn stören konnte.
Eine eigenartige Ruhe überfiel ihn zwischen den alten Grabstätten, er verweilte lange dort, und wie so oft zuvor war er sich nicht sicher, auf welcher Seite des Grabes er sich eigentlich befand.
Er hatte schon fast vergessen, warum er hier war, als er sah, dass der Polizist sich näherte. Er konnte sich im Augenblick nicht daran erinnern, wie er hieß. Irgendwas mit Sig.
Sigurður.
Neunundzwanzig
Sigurður Óli stand vor dem Drucker und starrte auf den Ausdruck, als das Telefon auf seinem Schreibtisch zu klingeln begann. Er nahm gereizt den Hörer ab. Zuerst hörte er nur die röchelnden Atemzüge eines Menschen.
»Wer ist am Apparat?«, fragte er.
»Ich muss mit dir sprechen«, hörte Sigurður Óli eine Stimme sagen und erkannte sofort, dass es Andrés war.
»Andrés?«
»Ich … Kannst du dich mit mir treffen?«
»Wo bist du?«
»In einer Telefonzelle. Ich bin … Ich werde auf dem Friedhof sein.«
»Auf was für einem Friedhof?«
»An der Suðurgata.«
»In Ordnung«, sagte Sigurður Óli. »Wo bist du jetzt?«
»… so in zwei Stunden.«
»Alles klar. In zwei Stunden auf dem Friedhof. Wo genau?«
Sigurður Óli erhielt keine Antwort darauf, Andrés hatte aufgelegt.
Knapp zwei Stunden später parkte Sigurður Óli sein Auto auf der Ljósvallagata und betrat den Friedhof durch das westliche Tor. Er hatte keine Ahnung, wo Andrés sein könnte, wandte sich nach links und ging auf schmalen Zickzackpfaden an Gräbern und Grabmalen vorbei quer über den Friedhof, bis er fast die Südseite an der Suðurgata erreicht hatte. Da sah er Andrés auf einer niedrigen, bemoosten Mauer sitzen, die vor langer Zeit um ein Doppelgrab herum errichtet worden war. Andrés schien zu beobachten, wie Sigurður Óli auf ihn zusteuerte, und offensichtlich wollte er sich erheben, aber es gelang ihm nicht.
Ein unbeschreiblicher Gestank ging von ihm aus, eine Mischung aus Schmutz, Urin und Alkohol. Wahrscheinlich hatte er seit Wochen seine Kleidung nicht gewechselt. Das Wenige, was von seinen Händen aus den Ärmeln seiner Jacke herausschaute, starrte vor Schmutz. Er trug eine Mütze auf dem Kopf und sah genauso heruntergekommen aus wie bei ihrer letzten Begegnung hinter dem Hauptdezernat.
»Du bist also gekommen.«
»Ich versuche seit einiger Zeit, dich zu finden«, sagte Sigurður Óli.
»Und hier bin ich«, sagte Andrés.
In der Tüte aus dem Alkoholladen, die neben Andrés lag, glaubte Sigurður Óli zwei Flaschen ausmachen zu können. Er setzte sich ebenfalls auf die Mauer und sah zu, wie Andrés eine Flasche aus der Tüte holte, den Verschluss abschraubte und die Flasche an den Mund setzte. Sie war beinahe leer. Vermutlich war in alkoholisiertem Zustand mehr aus ihm herauszuholen, dachte Sigurður Óli.
»Was ist los, Andrés?«, fragte er. »Weshalb nimmst du immer wieder Verbindung zu mir auf? Was willst du von uns?«
Andrés blickte sich um, seine Augen irrten von einem Grabstein zum anderen. Dann nahm er noch einen Schluck.
»Und was machst du hier auf dem Friedhof? Ich habe dich bei dir zu Hause gesucht.«
»Nirgendwo ist Ruhe, nur hier.«
»Ja, es ist ein ruhiger Ort«, sagte Sigurður Óli, der an die Leiche des jungen Mädchens denken musste, die auf dem Grab des isländischen Freiheitskämpfers Jón Sigurðsson gefunden worden war. Bergþóra war Zeugin in dem Fall gewesen, auf diese Weise hatten sie sich kennengelernt.
Man hörte das ein oder andere Auto die Suðurgata entlangfahren, und jenseits der Friedhofsmauer duckten sich die hübschen Häuser am Kirkjugarðsstígur.
»Hast du bekommen, was ich dir geschickt habe?«, fragte Andrés.
»Du meinst den Filmstreifen?«
»Ja, den Filmstreifen. Den hab ich zum Schluss gefunden. Nicht viel, aber genug. Er hat bloß zwei kurze Filme aufbewahrt, alles andere hat er vernichtet.«
»Auf
Weitere Kostenlose Bücher