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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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um die wirren, schmutzigen Haare zu verstecken und sich gegen die Kälte zu schützen. Dann war er die lange Strecke zum Alkoholgeschäft am Eiðistorg marschiert, denn er achtete darauf, sich nicht immer in den gleichen Läden blicken zu lassen. Er war zuletzt in der Filiale in der Austurstræti gewesen, zu der er es von der Grettisgata aus nicht allzu weit hatte, und ihm waren die schiefen Blicke aufgefallen, die ihm zugeworfen wurden. In der Kringla war er ebenfalls erst vor Kurzem gewesen. Er bezahlte immer bar, Karten hatte er sich nie zugelegt. Deswegen musste er manchmal in die Bank, um Geld abzuheben. Er erhielt eine Behindertenrente, die regelmäßig auf ein Konto eingezahlt wurde, und überdies hatte er ein kleines Guthaben aus der Zeit, als er zuletzt gejobbt hatte. Viel brauchte er nicht. Eigentlich aß er kaum noch etwas, der Schnaps war ihm Nahrung und Getränk.
    Sie sahen ihn an, als hätte er etwas verbrochen. Vielleicht lag es an seiner Aufmachung, das hoffte er zumindest. Wieso sollten sie etwas ahnen? Sie wussten gar nichts. Und sie weigerten sich auch nicht, ihm den Brennivín zu verkaufen. Zwar sah er nicht wie ein Bankdirektor aus, aber sein Geld war gut genug. Sie gaben sich desinteressiert, gleichgültig – kein Wort, kein Kommentar. Was ging es ihn an, was diese Leute dachten? Sie konnten ihm egal sein. Und er? Ging er sie etwas an? Gar nichts! Er war bloß gekommen, um sich seinen Brennivín zu kaufen, und damit basta. Er benahm sich nicht auffällig, sondern war nur ein Kunde wie jeder andere.
    Aber weshalb glotzten die ihn dann so an?!
    Durften vielleicht nur gut gekleidete Leute Schnaps kaufen?
    Mit diesen Fragen im Kopf verließ er den Laden und blickte sich um, als ginge er davon aus, verfolgt zu werden. Hatten die vielleicht die Polizei verständigt? Er beschleunigte seine Schritte. Der junge Mann an der Kasse, der ihn bedient hatte, sah ihm durch die Scheibe nach, bis er verschwunden war.
    Er sah zwar nirgends Polizisten, hielt sich aber trotzdem vorsichtshalber an weniger belebte Straßen. Er blieb ein paarmal stehen, und wenn er sich sicher war, dass niemand ihn beobachtete, holte er eine der Flaschen aus der Tüte und setzte sie an den Mund. Sie war schon halb leer, als er endlich zum Friedhof kam. Die andere musste noch eine Weile reichen.
    Der Friedhof an der Suðurgata war ein Ort, wo Ruhe und Frieden herrschten, deswegen ging er häufig dorthin. Er setzte sich auf eine niedrige Mauer an einem großen Grab, um sich auszuruhen, und trank einen weiteren Schluck. Es war empfindlich kalt, aber ihm warwarm, dafür sorgten seine Winterjacke und der Brennivín.
    Durch den Schnaps lebte er wieder etwas auf, und seine Gemütsverfassung besserte sich. Im Stillen sagte er sich mehrmals den ersten Teil einer Strophe vor, die ihm häufig einfiel, wenn er trank: Brennivín ist wahre Nahrung, das Aroma trüget nie . Er hatte das Stadtzentrum gemieden, um nicht auf Bekannte oder auf Polizisten zu stoßen, das musste er auf jeden Fall verhindern. Er war mehr als einmal festgenommen worden, wenn er sich dort hatte blicken lassen. Er hatte niemanden angepöbelt, sondern nur friedlich auf einer Bank auf dem Austurvöllur gesessen, und schon bauten sich zwei Polizisten vor ihm auf. Er sagte ihnen nur, sie sollten die Schnauze halten und vielleicht noch ein paar andere beleidigende Worte, auch wenn er sich daran hinterher nicht mehr erinnern konnte. Bevor er sich’s versah, hatten sie ihn in eine Zelle gesperrt. Er sei den Touristen nicht zuzumuten, sagten die Polizisten.
    Er ließ seine Blicke über den Friedhof schweifen, über moosbewachsene Grabsteine und Bäume, die aus schiefen Gräbern hochwuchsen. Er sah zum Himmel, der schwer verhangen und düster war, er kam ihm fast schwarz vor. Für kurze Zeit rissen die Wolken in der Ferne über den Bláfjöll auf, man sah die Sonne in einem hellblauen Himmelsstreifen aufleuchten, der dann wieder hinter einer schwarzen Wolkenbank verschwand.
    Bei der Beerdigung seiner Mutter hatte er sich nicht blicken lassen. Irgendwann, irgendwo, vermutlich als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hatte sie ihn als den Verwandten angegeben, mit dem man sich im Falle ihres Ablebens in Verbindung setzen sollte. Deshalbhatte er einen Anruf bekommen, der manchmal wie aus weiter Ferne immer noch in seinem Kopf widerhallte, aus einer viel weiteren Ferne als der Streifen Himmel über den Bláfjöll.
    »Und weshalb sagst du mir das?«, hatte er damals am Telefon

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